»Frühlingsgefühle.« Pewter marschierte in die Küche, um sich noch mehr Katzenkekse einzuverleiben.
6
Die Arbeitswoche verlief ohne besondere Vorkommnisse. Harry und Miranda sortierten die Post, zu dieser Jahreszeit eine leichte Aufgabe. Big Mim gab vor der Samstagsparade Erklärungen ab, wie sich das Hartriegelfest verschönern ließe. Alle lächelten, sagten »Sie haben Recht« und gingen ihren Geschäften nach.
Fair, Harrys Ex-Mann, war stark mit Abfohlen und Aufzucht beschäftigt. Als er erfuhr, dass Harry Diego Aybar zu der Teeparty und dann zum Tanz begleiten würde, schäumte er vor Wut; aber Fair hatte den Fehler begangen zu denken, er brauchte Harry nicht zu fragen. Er hatte angenommen, sie würde mit ihm hingehen, wenn sie sich von der Arbeit losreißen konnte. Er, für gewöhnlich ein zurückhaltender, vernünftiger Mann, knallte ihre Küchentür zu, was die Katzen erschreckte und Harry insgeheim freute.
Miranda strahlte, weil ihr Highschool-Schwarm, der aus Hawaii zurückerwartet wurde, wo er seine Besitzverhältnisse endgültig geregelt hatte, sie zu allen Festivitäten begleiten würde. Sie wollte ihn Freitagmorgen am Flughafen abholen, und sie rechnete damit, dass er sich bis zum Samstag, dem großen Tag, von den Strapazen seiner Arbeit und der Reise erholt haben würde. Tracy Raz, ehemaliger Spitzensportler der Crozet Highschool, Abschlussklasse von 1950, war ein zäher Bursche und ein interessanter obendrein.
Reverend Herbert C. Jones, Pastor der lutheranischen Kirche und diesjähriger Parademarschall, war so vergnügt, wie man ihn nie gesehen hatte, und das wollte etwas heißen, war der gute Pastor doch ohnehin ein fröhlicher Mensch.
Little Mim als Vizebürgermeisterin von Crozet nutzte die Gelegenheit, auf der Aufstellung von mehr Abfalltonnen entlang der Paradestrecke zu bestehen. Sie machte sich bei den Kaufleuten der Stadt beliebt, indem sie die Kosten für die Anfertigung der Flaggen übernahm, die sie über ihre Eingänge hängten. Auf die Flaggen, die das Wort »Crozet« vor einem französisch-blauen Hintergrund zierte, war zudem auf der unteren rechten Seite eine Eisenbahnschiene aufgestickt. Da Crozet nach Claudius Crozet benannt war, einem ehemaligen Ingenieur in der Armee Napoleons, hoffte sie, dass Auswärtige nach den Schienen fragen würden. Nachdem Crozet in Russland in Gefangenschaft gewesen war, hatte er sich dem Kaiser wieder angeschlossen, war bei Waterloo dabei gewesen, hatte es geschafft, den Royalisten zu entkommen und sich nach Amerika einzuschiffen. Er hatte vier Tunnels durch das Blue-Ridge-Gebirge getrieben, eine technische Glanzleistung, die als eines der Wunder des neunzehnten Jahrhunderts galt. Sein Werk - ohne Dynamit, nur mit Hacken, Schaufeln und Äxten vollbracht - existiert bis zum heutigen Tag, ebenso wie die Straßen, die er von der Küstenebene bis ins Shenandoah-Tal gebaut hat.
Die Stadt selbst wurde nie zu einer glanzvollen Bahnstation, sondern blieb ein stiller Haltepunkt, bevor man sich in die Berge begab. Die meisten Einwohner arbeiteten schwer für ihren Lebensunterhalt, einige jedoch erfreuten sich ererbten Reichtums, darunter Little Mim, weswegen sie die Flaggen auch selbst bezahlte. Sie dachte, wenn die Kaufleute die Flaggen nach draußen hängten, würde das den Tag noch bunter gestalten und Stolz auf die Gemeinde bekunden. Nicht, dass es den Bewohnern der kleinen, unspektakulären Stadt an Stolz mangelte, aber er äußerte sich auf die stille Art der Virginier: Sie sprachen nicht darüber. Das Umland mit seinen Apfelhainen zog Touristen aus aller Welt an, ebenso wie Albemarle County selbst, das mit den Geistern von Jefferson und Monroe belastet war, gar nicht zu reden von den vielen Filmstars, Sportgrößen und literarischen Lichtern, die, angelockt von der natürlichen Schönheit der Gegend und der Universität von Virginia, hierher gezogen waren. Da es nur eine Flugstunde von New York City entfernt war, pendelten einige der reichsten Bewohner täglich in ihren Privatjets hin und her.
Obwohl Crozet zu Albemarle County gehörte, wurde Charlottesville, die Bezirkshauptstadt, von den Einwohnern mehr oder weniger ignoriert.
Little Mim, Republikanerin, und ihr Vater, Demokrat, regierten die Stadt jetzt gemeinsam. Er lancierte sie, bedrängte sie aber zugleich, die Partei zu wechseln. Bislang hatte sie widerstanden.
Die Kaufleute verehrten sie, und nicht nur wegen der Flaggen. Wie ihr Vater hatte sie ein natürliches Gespür für Politik.
Lottie Pearson unterstützte Little Mim. Beide Frauen waren knapp einssiebzig groß, schlank und sehr gepflegt. Da jede mit Vorliebe helle Frühlingspullis, Khakihosen und flache Schuhe trug, konnte man sie von hinten einzig dadurch unterscheiden, dass Lottie honigbraune Haare hatte, während die von Little Mim diese Woche aschblond waren. Lottie bot in dieser Woche ein auffälliges Bild, da sie auf eine Leiter kletterte und die großen Blumenkörbe, die an jeder Straßenecke hingen, goss und inspizierte. Wie Fair war sie nicht begeistert, dass Harry Diego Aybar begleitete, aber sie machte gute Miene dazu. Little Mim war dermaßen mit den Festvorbereitungen beschäftigt, dass sie wirklich keine Zeit hatte, allen mitzuteilen, was sie dachte, obwohl sie es so gerne wollte. Little Mim, die geschieden war, fühlte sich allmählich einsam. Diego wäre auch für sie ein passender Begleiter gewesen.
Der letzte Arbeitsgang vor der Parade war die Beflaggung. Alle legten sich ins Zeug, und bald wehten die blaugoldenen Fahnen an der Route 240 und der Whitehall Road. Fahnen hingen an den Gebäuden. Blaugoldene Flaggen und Wimpel flatterten aus den Fenstern. Blau und Gold waren die Farben der französischen Armee unter Napoleon gewesen, das meinte die Stadt zumindest. Weiß und Gold mit der Lilie war das Emblem der Royalisten, deswegen war nirgends eine Lilie in Sicht.
Außer dem großen Kran mit der Abrissbirne, den die Gebrüder O'Bannon benutzten, um die schwereren Gegenstände durch die Stadt zu transportieren, besaßen sie noch einen zweiten, kleineren Kran. Roger hatte den Dreh raus, aufzutauchen, wo immer Lottie gerade war, stets mit der Ausrede, er habe dort etwas zu erledigen. Er bat sie, ihn zum Abbruchball zu begleiten, der am ersten Wochenende im Mai stattfand, aber sie hielt ihn hin und sagte, sie müsse zuerst das Hartriegelfest hinter sich bringen.
Da sie ihn nicht mit einem klaren Nein beschied, machte er sich Hoffnung. Sean riet ihm aufzugeben, ebenso Don Clatterbuck, sein Angelkumpan. Roger schwor, er werde sie erobern.
Freitagabend kroch Harry nach Hause. Sie hatte im Postamt allein die Stellung gehalten, weil Miranda zum Flughafen musste. Sie dachte sich zudem, dass Miranda und Tracy sich viel zu erzählen haben würden, weswegen sie Miranda untersagt hatte, wieder zur Arbeit zu kommen. Das Ironische war, dass Miranda keine Postangestellte war. Ihr vor langer Zeit verstorbener Mann war der Posthalter gewesen, und sie half jetzt aus, um was zu tun zu haben. Als George starb, ließ die Macht der Gewohnheit sie im Postamt ein- und ausgehen. Harry tat Miranda viele kleine Gefälligkeiten, hatte aber das Gefühl, die grenzenlose Großzügigkeit der älteren Frau niemals angemessen vergelten zu können.
Entschlossen, früh schlafen zu gehen, schlüpfte Harry um neun ins Bett, Mrs. Murphy, Pewter und Tucker ebenfalls.
Kurz bevor die Tiere einschliefen, murmelte Pewter: »Ich hab das Gefühl, morgen wird ein großer, großer Tag.«
»»Das Hartriegelfest ist immer ein großer Tag.« Tucker wälzte sich auf die Seite.
»Dakommt noch mehr.« Die graue Katze schloss die schönen hellgrünen Augen.
Mrs. Murphy, die auf dem Rücken neben Harry lag, wandte den Kopf und sah Pewter an, die auf dem Kissen ruhte.»»Katzenintuition.«
7
Der Samstag dämmerte hell und klar herauf, morgens um halb sechs betrug die Temperatur acht Grad. Die Judasbäume standen in voller Blüte, nur die in den Senken, wo es kühler war, blieben dunkel himbeerrot, bevor sie voll aufblühen würden. Die Apfelbäume hatten noch einige wenige Blüten, aber die Birnbäume waren abgeblüht, ebenso die Pfirsichbäume. Die Gärten in der Stadt waren voller Tulpen und Stiefmütterchen. Aber die Pracht, die Herrlichkeit, die Schönheit des Frühlings lag in den Hartriegelblüten, die sich zufällig diesen Tag ausgesucht hatten, um aufzugehen. Die Berge waren übersät mit wildem Hartriegel. Cremig rosa blühende Bäume sprenkelten leuchtend grüne Rasenflächen. Weißer und rosa Hartriegel säumte Zufahrten. Wo man hinsah, blühte Hartriegel, und um das Bild vollkommen zu machen, hatten sich auch die Azaleen geöffnet. Kräftig rosa, blasslila und flammend orangerote Azaleen verkündeten die endgültige Ankunft des Frühlings in Virginia. Die Glyzinien, die sich an Türstöcken und Pergolen wiegten, ergänzten die unglaublichen Farben um lavendel und weiß. Von Glyzinien überwucherte alte Ruinen lockten Fotografen an.