»»Ja, warum nicht.« Die graue Katze lehnte sich über die Kante des Transporters.
Harry sah wieder auf die Uhr. »Noch acht Minuten.«
Eine sportliche Gestalt joggte neben den versammelten Festwagen her.
»Willkommen daheim!« Harry strahlte, als sie Tracy Raz sah.
»Hey, Mädel.« Sie beugte sich herunter, und er gab ihr einen Kuss. »Ich komm später zu Ihnen. Knuddel ist nervös. Ich glaube, ihre Tröte ist ein bisschen rostig.« Er lachte über Miranda, die er manchmal »Knuddel« nannte, das war ihr Spitzname aus der Highschoolzeit.
Miranda war die Stimmführerin der Kirche zum heiligen Licht, und der Chor hatte sich auf einem Festwagen aufgestellt, der den Namen »Treppe zum Paradies« trug - was anderes hätte man auch nicht erwartet.
»Haben Sie BoomBoom gesehen?«
»Vor einer Minute. Aufgedonnert.« Er lächelte.
»Kein Wunder. Hey, Sie kommen doch zum Tanztee. Wir sehen uns dort.«
»Alles klar.« Er gab ihr noch einen Kuss und joggte die Wagenreihe zurück bis dorthin, wo Miranda in ihrem Chorgewand zu sehen war, mit dem Rücken zu Harry. Die anderen Chormitglieder nahmen auf der Treppe zum Paradies ihre Plätze ein. Einige machten den Eindruck, als würde ihr Schöpfer sie in Bälde zu sich rufen.
»»Mom, vergiss bloß nicht, selbst Wasser zu trinken«, bellte die stets fürsorgliche Tucker.
Harry stieg herunter, nahm den Hund auf den Arm und kletterte wieder hinauf. Sie verstand nicht ein Wort von dem, was der Corgi gesagt hatte.
Jim Sanburne und Little Mim saßen in einem offenen Cabrio hinter Herbs Festwagen.
Harry lächelte ihnen zu und sie lächelten zurück. »Little Mim, Sean sucht dich.«
»Er hat mich gefunden. Ich werde tun was ich kann«, lautete die wenig begeisterte Antwort.
Lottie war auf dem dritten Festwagen, »Töchter der Zeit«, der von den Vereinigten Töchtern der Konföderation gesponsert wurde. Lotties Reifrock war so weit, dass ein steifer Wind sie in die Luft befördern könnte. Roger fuhr diesen Wagen, Sean fuhr den O'Bannon-Festwagen.
»Noch vier Minuten«, rief Harry.
Ein Zupfen an ihren Jeans ließ sie sich umdrehen. Boom-Boom, für den Festwagen der Herz-Hilfe als Zwanziger-Jahre-Feger kostümiert, sagte: »Ich möchte, dass du Diego vor dem Tee kennen lernst. Mary Minor Haristeen, darf ich vorstellen, Diego Aybar.«
Harry machte den Mund auf, aber es kam erst mal nichts heraus. Sie starrte in die klaren braunen Augen eines der bestaussehenden Männer, denen sie je begegnet war. »Äh - willkommen in Crozet.«
»Es ist mir ein Vergnügen. BoomBoom sagt, ich solle Sie in Tante Tallys« - er sagte »Tante Tallys« mit einem spanischen Akzent und einem Anflug von Belustigung - »Garten treffen. Sie sagt, alle verlieben sich in dem Garten.«
»In den Garten.« Harry lächelte.
»Nein, in dem Garten«, berichtigte BoomBoom. »Hört, ich muss jetzt wieder auf meinen Wagen. Diego, die beiden besten Plätze, sich die Parade anzusehen, sind hinten auf Harrys Transporter oder die Ecke Route 240 und Whitehall Road.«
»Versuchen Sie's mit dem Transporter«, stammelte Harry.
»Die zwei Katzen sind gute Gesellschafterinnen.«
Die zwei Katzen lachten in eben diesem Augenblick über ihre Mutter, die völlig aus dem Häuschen war. Keine konnte sich erinnern, Harry jemals so gesehen zu haben.
»Die besten Freunde kommen auf vier Beinen daher«, sagte Diego mit seiner betörenden hellen Baritonstimme.
»»Also das ist mal ein Mann mit Verstand.« Mrs. Murphy trat vor, um ihn zu begrüßen, als er graziös auf die Ladefläche sprang.
»Noch eine Minute«, rief Harry ins Megaphon.
Reverend Herb Jones richtete sich gerade auf, holte tief Luft. In dem Auto hinter ihm gab Little Mim ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. Die Fahrer ließen die Motoren an. Einige Kapellenmitglieder warfen die Schultern zurück, andere leckten ihre Mundstücke an, während die Trommler erwartungsvoll ihre Stöcke wirbelten.
»Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins - los!«, rief Harry.
Die Trommler klapperten rhythmisch mit ihren Stöcken. Die vier Highschool-Kapellen, die, gleichmäßig verteilt, die Parade begleiteten, marschierten an ihre Plätze. Reverend Jones fuhr vorneweg langsam vom Schulplatz. Die St.-Elizabeth-Kapelle, die als Erste mit Musik dran war, ging anfangs nur mit Basstrommeln los,bumm, bumm, bumm, dann kamen die Schnarrtrommeln hinzu, und binnen einer Minute schmetterten alle die stets beliebte Titelmelodie vonRocky.
Harry winkte jeder Gruppe zu, als sie an ihr vorbeizog. Sie hörte das Gejohle der vielen Menschen, die sich am Straßenrand drängten. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie hatte ein Gefühl, als würde ihr eigenes Leben an ihr vorbeiziehen. Der Anblick von Tally Urquhart in ihrer Rikscha, die an ihrer zweiundneunzigsten Parade teilnahm (Tally war schon als Kleinkind ein Star gewesen), ließ die Tränen fließen.
Was für ein großes Glück ist es doch, dort zu sein, wo man Menschen kennt, wo man Menschen liebt und hoffentlich von ihnen geliebt wird. Dass ihre Familie unmittelbar nach dem Unabhängigkeitskrieg hier heimisch geworden war, nachdem es sie von der Küstenebene fort trieb, wo sie seit 1640 gelebt hatte, stärkte ihr Heimatbewusstsein nur noch mehr.
Tucker drückte sich an Harry. Tucker liebte Musik. Die Katzen waren auf das Dach des Transporters gesprungen, um ja nichts zu verpassen.
Harry winkte Freunden und Nachbarn zu, als sie vorüberzogen, und dann sah sie wieder zu Diego hin. Sein Lächeln war fünftausend Megawatt stark. Sie lächelte zurück, froh, dass dieses kleine Stück von Virginia ihm gefiel. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass auch sie ihm gefiel.
Harry war zumute, als würde ihre Brust zerspringen. Die Freude, so groß, wie Gram tief war, überwältigte sie nahezu.
8
Es waren nur drei Kilometer von der Highschool bis zur Hauptkreuzung der Stadt, aber die Strecke war hügelig. Dies berücksichtigend, hatten die Konstrukteure der Festwagen Geländer und Stützen ersonnen, etwa imitierte Steinblöcke mit kleinen Handgriffen daran, an denen sich die Leute auf den Wagen festhalten konnten, wenn diese bergab rollten.
Lottie Pearson hatte das vergessen. Als der Festwagen der Töchter der Konföderation sich kurz vor der Feuerwache abwärts neigte, taumelte sie vom Wagen, und nur das Metall in ihrem Reifrock, der zuerst auf dem Pflaster landete, rettete sie. Sie blieb unverletzt, und Freunde, die an der Paradestrecke standen, halfen ihr wieder hinauf. Roger konnte den Wagen nicht verlassen. Lotties Rock war verbogen, was zur Folge hatte, dass ihre lange Unterhose hervorguckte. Jedes Mal, wenn sie den Rock zurechtschob, rutschte er hinten hoch. Das erzeugte Hochrufe und Gelächter, aber nicht von der Art, die sie zu hören gehofft hatte. Da sie die führende Dame ganz vornean auf dem Wagen war, wollte sie ihren Posten nicht aufgeben. Wenn sie die Wahl hatte, ihren Hintern zu zeigen oder sich zurückzuziehen, beschloss Lottie tapfer, ihren Hintern zu zeigen.
Als die letzte Kapelle vom Parkplatz marschierte, die schwarzrote von der Albemarle Highschool, sprang Harry von ihrem Sockel.
»»Mom ist ein bisschen braun geworden. Sieht gut aus zu ihrem weißen T-Shirt«, bemerkte Pewter, als Harry ihren Pullover auszog, da es wärmer wurde. Kichernd erinnerte Pewter sich an den Anblick, wie Harry ihre Jeans und ihr T-Shirt gebügelt hatte.
»»Niemand sieht in Jeans besser aus als Harry«, rief Tucker hinter ihrer Mutter hervor.»»Ich meine, wenn dieser Mensch einen trainierten Körper mag, dann muss er Mom mögen.«
Mrs. Murphy liebte ihre Mutter, aber ihr war klar, dass nicht alle Männer natürliche Frauen mögen. Viele, von Künstlichkeit angezogen, wollen üppiges Haar, vorzugsweise blond, bis zum Maximum hochgepuschte Titten, lange Fingernägel, teure Kleider und vollendetes Make-up. Mit einem Wort, BoomBoom.