Während die Menschen ihre gegenseitige Gesellschaft genossen, Tally sich ihre Kindheit zurückrief, Herb sich an die großen Sprünge längst vergangener Jagdzeiten erinnerte, gingen die Tiere rasch ans Werk.
Pewter, ohnehin neugierig, zog leise die Schränke in der Geschirrkammer auf. Sie hatten Glasfronten, so dass sie keine Zeit verschwenden musste. Sie schob die Deckel von zwei Zuckerdosen, eine aus Silber und gediegen, eine schlicht. Sie enthielten reinweißen Zucker. Sie schnupperte. Reinweißer Zucker, ganz einfach.
Ferner untersuchte sie jede kleine Schüssel, jede Terrine, jedes Sahnekännchen. Alles in Ordnung. Enttäuscht sprang sie herunter und zog die unteren Schränke auf, die keine Glasfronten hatten. Sie enthielten nichts außer großen Töpfen, Pfannen und Servierschüsseln.
Mrs. Murphy hatte beabsichtigt, die Küche zu durchstreifen, aber da die Menschen sich dort aufhielten, beschloss sie, sich Tucker anzuschließen.
Die gewissenhafte und kluge Corgihündin begann sorgfältig mit den Fugen zwischen zwei Brettern, die sie sich von einem Ende bis zum anderen vornahm. Murphy kam gerade herein, als sie an der Stelle war, wo der Tisch gestanden hatte.
Die Katze setzte sich auf die Hinterbacken.
Tucker hielt inne, prüfte eine Stelle, hob die Nase, senkte sie wieder. »Murphy, riech mal.«
Die Katze ging zu ihrer Freundin, und obwohl ihre Nase nicht so fein war wie die des Hundes, wehte sie aus einer Ritze ein Geruch an, so schwach, als sei er ätherisch. »Bitter.«
»Riecht wie ein schlimmes Gift, aber wir können es nicht nachweisen.« Der Hund legte den Kopf schief, senkte dann wieder die Nase, zog sie kraus, hob den Kopf.»Kein Rattengift. Das hier hab ich noch nie gerochen.«
Pewter kam hereingeschlendert.»Nichts, nichts und noch mal nichts. «
»Komm her«, sagte Murphy.
Pewter hielt ihre Nase an die Stelle, auf die Tucker zeigte. Sie schnupperte, blinzelte, warf den Kopf zurück. »Widerlich, was noch da ist.« Sie wandte sich an Murphy: »Du könntest Recht haben.«
»Ihr zwei habt unter dem Tisch geschlafen. Ich erinnere mich«, die Tigerkatze sprang auf den Kaminsims, wo sie während der Teeparty gesessen hatte,»dass Roger schon auf dem Stuhl saß. Lottie kam ins Zimmer. Sie war beim Tanzen gewesen oder im Garten, ich weiß es nicht. Die Desserts waren gerade aufgetragen worden. Alles war als Büfett hergerichtet. Die Leute kamen herein und drängten sich am Tisch. Sie brauchten den Kaffee, hatten viel getrunken. Lottie nahm ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Sie stand in der Schlange. Dann schenkte sie aus der Warmhaltekanne eine Tasse Kaffee ein und gab drei Löffel Rohzucker hinein. Ich erinnere mich, dass es Rohzucker war, weil sie einen Schritt zurücktrat, um den Zucker auf den Tisch zu stellen, und mit Thomas Steinmetz zusammenstieß, als er gerade nach dem Zucker griff. Die Dose rutschte Lottie aus der Hand und ging zu Bruch. Sie entschuldigte sich, er sagte, es sei seine Schuld, und dann brachte sie Kuchen und Kaffee zu Roger, der sich über ihre Aufmerksamkeit freute. Ich weiß nicht, was sie gesprochen haben, weil ich unterdessen die anderen Menschen beobachtete.« Sie dachte einen Augenblick nach.»Sie hatte 'ne Sauerei mit dem Zucker gemacht. Thomas hat's weggeräumt, bevor jemand von den jungen Leuten, die als Bedienung angeheuert waren, hinzukam. Er hat die Scherben der Zuckerdose aufgelesen und den Zucker mit seiner Serviette aufgeklaubt. Als jemand von der Bedienung kam, gab er sie ihm, um sie in den Abfall zu werfen. Er hatte alles in seine Serviette gepackt. Ich habe zu der Zeit nicht sehr darauf geachtet, ich weiß bloß noch, dass ich gedacht habe, nett von ihm, dass er das macht, es war ja so viel auf den Boden gefallen, dass jemand hätte drauf ausrutschen können. Ich würde sagen, so betrunken, wie viele waren, war das eine vernünftige Entscheidung von ihm. Und zehn Minuten später war Roger gestorben. Und zwar leise. Ohne zu gurgeln oder würgen. Ich hab hier gesessen. Leise!«
»Lottie Pearson hat Roger Kaffee und Kuchen gebracht. Am Abend ist sie dann mit Don Clatterbuck zu dem Tanz gegangen.«
Pewter zog die Stirn kraus. »Lottie Pearson.«
»Und sie ist nicht sehr glücklich mit Mom.« Tucker legte die Ohren an.
»Ja.« Murphy schwieg eine lange Weile.»Ich hatte gedacht, dass Sean - aber jetzt weiß ich nicht recht. Aber was hätte Lottie Pearson mit drei toten Männern zu schaffen haben können, Wesley Partlow, Donny Clatterbuck und Roger O'Bannon? Ist sie 'ne schwarze Witwe oder was?«
»Sie hätte schon vorher Männer umgebracht haben können, aber wenn ich drüber nachdenke, war vielleicht ihre Feindseligkeit gegenüber Roger eine große Sache.«
»Wenn sie keine Sachen macht, dann tut's ein anderer hier ganz sicher.« Tucker hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
35
Harry, die nicht wusste, was ihre Tiere dachten, handelte nach ihren eigenen Vorstellungen. Erleichtert, weil es Tante Tally an nichts fehlte, lenkte sie ihren Transporter zum Seniorenheim, dem höchsten Gebäude von Crozet, was allerdings nicht viel besagte.
Die asphaltierte Fläche, die das Gebäude aus beigefarbenen Blockbausteinen umgab, war noch nass, so dass der Parkplatz schimmerte wie Glimmer. Harry fuhr zur Rückseite des Hauses, stellte den Motor ab und stieg aus, gefolgt von den »Kleinen«. Pewter schüttelte bei jedem Schritt Wasser von ihren Pfoten.
Harry ging um das Gebäude herum. Nichts Außergewöhnliches war auszumachen. Am Rand der Teerstraße blieb sie stehen, um die Eisenbahnschienen in Augenschein zu nehmen, die in einer langen Kurve rechts an dem Gebäude vorbeiführten. Wesley war in der Nähe der Schienen gefunden worden. Das Gebüsch, das zu dieser Jahreszeit schon hoch stand, konnte jegliche Vorgänge leicht verbergen. Harry schob sich durch Sträucher und Gestrüpp, die Blätter besprühten sie mit Wasser. Eine alte Lehmstraße, von großen, mit braunem Wasser gefüllten Schlaglöchern übersät, verlief parallel zu den Schienen. Der Baum, an dem der Erhängte aufgefunden wurde, eine Eiche, stand etwa fünfzig Meter südlich dieser Straße. Die Entfernung von dem Baum zu den Schienen betrug ungefähr zweihundert Meter.
Harry sah zu den kräftigen, ausladenden Ästen hinauf und schauderte. Die Sonne lugte aus den Wolken, verschwand dann plötzlich wieder. Donner erschütterte die andere Seite des Blue-Ridge-Gebirges. Er war so weit entfernt, dass er sich anhörte wie ein Gott, der sich räusperte.
»Bloß nicht noch mehr Regen.« Harry atmete aus. »Ich sag euch, heutzutage haben wir entweder Überschwemmungen oder Dürren.«
»Du hast vollkommen Recht. Gehn wir zum Wagen zurück«, empfahl Pewter entschlossen.
»H-m-m.« Harry ging um den Baum herum, untersuchte die Erde, dann die Baumrinde. Ihre Neugierde gewann die Oberhand, ein Zustand, den ihre Tiere fürchteten.
Nach zehn Minuten kehrte sie zum Wagen zurück, Pewter raste allen voraus. Der Himmel verfinsterte sich in Windeseile. Harry öffnete die Fahrertür einen Spalt, zog ein Handtuch hinter dem Sitz hervor. Sie wischte allen Tieren die Pfoten ab, bevor sie sie ins Auto ließ. Dann stieg sie ein, öffnete das Fenster etwa fünf Zentimeter und blieb sitzen. Langsam hüllte ein feiner Nebel das Seniorenheim ein.
Die Eingangstür ging auf. Sean O'Bannon, eine stützende Hand am Arm seiner Mutter, führte sie zu ihrem Auto. Der Nebel, schwer von Feuchtigkeit, wurde dichter.
»Das hatte ich vergessen«, sagte Harry vor sich hin, als sie beobachtete, wie Sean sich ans Steuer des Autos seiner Mutter setzte, den Motor anließ und davonfuhr.