Obwohl die Stimmen nur in seinem Verstand zu vernehmen und daher geräuschlos waren, begann er, gewisse Denkweisen mit gewissen Personen in Einklang zu bringen. Ihm fiel auf, daß er manchmal, wenn er bei Mutter oder Vater war, bei Nafai oder Issib, bei Luet oder Huschidh, am deutlichsten das Gespräch hörte, das dem galt, worüber sie sich gerade mit einem anderen unterhielten. Er sah zum Beispiel, daß Luet versuchte, einen Streit zwischen Chveja und Dazja zu schlichten, und hörte, wie jemand sagte: Warum setzt sie sich bei Dazja nicht durch? Warum macht sie wieder einen Rückzieher? Und ein anderer — die beständigste Stimme, die stärkste — sagte: Sie setzt sich durch, sie macht das gut, hab Geduld, sie muß keinen offenen Sieg erringen, solange ihr Chveja versichert, daß sie noch euren Respekt hat. Daher wußte er, daß eine besonders leidenschaftliche, vertrauliche Stimme bedeutete, daß er Luet hörte; ein kühlerer, ruhigerer, aber unsicherer Gedankengang der Huschidhs war. Die nüchternste, ungeduldigste, streitlustigste Stimme aber war die Nafais.
Doch obwohl Ojkib das alles wußte, war er noch so jung, daß er nicht begriff, daß er diese Dinge eigentlich nicht hören sollte. Zuerst wurde es ihm der Träume wegen klar, denn diese waren eine der wirksamsten Möglichkeiten der Überseele, mit Menschen zu sprechen. Als Ojkib noch sehr klein war, kam Luet einmal zu ihnen, um mit Mutter über einen Traum zu sprechen, den sie gehabt hatte. Als sie ihn erzählt hatte, meldete Ojkib sich zu Wort und sagte: »Ich hatte diesen Traum ebenfalls!«, und dann wiederholte er die Dinge, die Luet gesehen hatte.
Mutter antwortete ihm daraufhin lächelnd, doch er wußte, sie glaubte ihm nicht, daß er denselben Traum gehabt hatte. Als es beim zweitenmal geschah, bei einem Traum Vaters, nahm Mutter Ojkib zur Seite und erklärte ihm sanft, daß er nicht so tun müsse, als hätte er dieselben Träume wie andere Leute gehabt. Es sei besser, nur seine eigenen Träume zu erklären.
Ojkib störte es, daß man ihm nicht glaubte, und je älter er wurde, desto mehr störte es ihn. Warum glaubten die Erwachsenen ihm einfach nicht, daß er als Dreijähriger, als Vierjähriger, dieselben Mitteilungen von der Überseele bekam, die auch sie so häufig erhielten? Schließlich kam er zu dem Schluß, das Problem läge darin, daß der Traum wirklich einer anderen Person geschickt wurde — die Träume trafen immer auf ihre Situation zu, aber eigentlich nicht auf die Ojkibs. Daher wußten die Erwachsenen, daß die Überseele ihm nie einen solchen Traum geschickt hätte; denn der Traum hatte ja nichts mit seinem Leben zu tun. Und die Überseele hatte den Traum auch gar nicht ihm geschickt. Die Träume und die Hintergrundgespräche waren völlig real, aber sie waren gleichzeitig nicht die seinen.
Er fragte sich: Warum hat die Überseele mir nichts zu sagen?
Als Ojkib acht Jahre alt wurde, hatte er schon lange gelernt, für sich zu behalten, was er gehört hatte. Er war von Natur aus ruhig und zurückhaltend und zog es vor, in einer großen Gruppe zu schweigen; er lauschte auf alles und half, wenn er gebraucht wurde. Er verstand viel mehr, als alle anderen glaubten — zum einen, weil er von klein an mitgehört hatte, wie Erwachsene ihre Probleme mit einem erwachsenen Vokabular besprachen, und zum anderen, weil er neben den lauten Gesprächen Fetzen und Bruchstücke innerer Dialoge hören konnte, wenn die Überseele Vorschläge machte, Stimmungen zu beeinflussen versuchte und die Leute gelegentlich von dem ablenken wollte, was sie gerade dachten oder taten. Das Problem bestand darin, daß diese Gespräche Ojkib stets ablenkten, so daß er kaum eigene Gedanken haben konnte; so sehr beschäftigte ihn der Versuch, allem zu folgen, was um ihn herum vorging. Wenn er den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, wußte er nie genau, ob er auf etwas antwortete, das laut gesagt worden war, oder auf Dinge, von denen er nur wußte, weil er etwas gehört hatte, das er eigentlich gar nicht hatte hören sollen.
Es gab auch noch einen anderen Grund, weshalb Ojkib wenig sagte. Er hatte erfahren, daß es eine Privatsphäre und Geheimnisse gab, und er wußte, daß es die anderen nicht freuen würde, falls sie sich stets fragen mußten, wieviel er wußte. Er nahm an, es würde sie wütend machen, wenn sie erfuhren, daß ihre intimsten Gedanken, die in ihrem Verstand verankert waren, wo nur die Überseele sie hören konnte, vom Geist eines sechs-, sieben- oder achtjährigen Knaben erfaßt und gespeichert wurden:
Manchmal war die Last all dieser Geheimnisse größer, als Ojkib ertragen konnte. Deshalb hatte er damit angefangen, kleine Gespräche mit Yasai zu führen, seinem jüngeren Bruder. Er erzählt Yasai nicht, wie er die Dinge in Erfahrung brachte, von denen er wußte. Statt dessen ließ er stets Bemerkungen fallen wie: »Ich wette, Luet ist wütend, weil Huschidh nie verhindert, daß Dazja die jüngeren Kinder herumkommandiert«, oder: »Vater liebt Nafai eigentlich nicht mehr als alle anderen. Es liegt nur daran, daß Nafai als einziger begreift, was Vater tut, und ihm dabei helfen kann.« Ojkib wußte, daß Yaja verwirrt war, weil seine ›Einblicke‹ sich so oft als richtig erwiesen. Doch Yaja war auch geschmeichelt, von seinem »klugen« älteren Bruder ins Vertrauen gezogen zu werden. Manchmal kam Ojkib sich wie ein Betrüger vor, weil er Yaja in dem Glauben ließ, er sei einfach von sich aus auf bestimmte Gedanken gekommen. Aber er wußte, ohne den Grund dafür zu kennen, daß es keine gute Idee wäre, seinem Bruder Yaja zu erzählen, daß alle Zwiegespräche mit der Überseele in seinen Geist flossen. Yaja konnte durchaus ein Geheimnis bewahren, aber bei einem so wichtigen Thema mußte er sich früher oder später einfach verplappern.
Also behielt Ojkib seine Geheimnisse für sich. Am schwersten war ihm dies vor ein paar Monaten gefallen, als Nafai zu den Bergen ging, die Grenze durchbrach und die Raumschiffe fand. Da hörte Ojkib einige schreckliche, angsteinflößende Dinge. Luet bat die Überseele, ihren Gatten zu beschützen. Die Überseele drängte jemand anders, ruhig zu sein — sei ruhig, töte deinen Bruder nicht, wenn du deinen Bruder tötest, wirst du nicht mehr damit leben wollen. Er verstand mittlerweile so gut, was es mit ihrer Gemeinschaft auf sich hatte, daß er wußte, wer die Absicht hatte, Nafai zu töten. Ojkib hätte gern etwas getan, konnte es aber nicht. Mehr noch, der Mahlstrom der Bedürfnisse und Wünsche, der Schreie und Forderungen, der Bitten und des Kummers machte ihn fast unbeweglich. Er hatte schreckliche Angst; er ging zu Mutter und umarmte sie, und er hörte, wie sie zu Volemak sagte: »Siehst du, wie die Kinder die Dinge erfassen, ohne sie zu verstehen?« Er wollte sagen: »Ich verstehe sehr wohl, daß Elemak und Mebbekew vorhaben, Nafai zu töten und dann über uns alle zu herrschen — ich weiß es, weil ich gehört habe, wie die Überseele versucht hat, sie daran zu hindern. Ich weiß, daß Luet schreckliche Angst hat — und du ebenfalls —, Nafai könnte getötet werden. Aber ich weiß auch, daß die Überseele wie mit einer Sturzflut zu Nafai spricht, daß sie ihm wichtige Dinge mitteilt, wunderbare Dinge. Aber er ist so weit entfernt, daß ich kaum etwas davon mitbekomme, und ich weiß, daß Nafai selbst nicht die geringste Furcht hat, daß er nur aufgeregt ist und im stillen immer wieder ruft: ›Jetzt verstehe ich es! So ist das also! Jetzt wird mir alles klar! Ja!‹« Aber er konnte nichts davon erklären. Er konnte sich lediglich an seine Mutter klammern, bis sie ihn zurückstoßen mußte, damit sie mit ihrer Arbeit weitermachen konnte. Also blieb ihm nur die Möglichkeit, mit Yasai darüber zu sprechen. »Ich glaube, Elja und Meb werden versuchen, Nafai zu töten, wenn er heute zurückkommt«, sagte er, und Yajas Augen wurden ganz groß. »Ich glaube, Njef macht sich aber keine Sorgen, weil er so stark geworden ist, daß niemand ihn verletzen kann.«