Выбрать главу

Vater hatte mit ihr darüber gesprochen, und auch Mutter, als sie das letzte Mal wach gewesen war. Du verbringst zu viel Zeit allein, Chveja. Die anderen Kinder glauben manchmal, daß du sie nicht magst. Aber ein Buch zu lesen war für Chveja nicht dasselbe wie allein zu sein. Statt dessen führte sie ein Gespräch mit einer Person, ein beidseitiges Gespräch, das beim Thema blieb und nicht ständig andere Richtungen einschlug oder von jemandem unterbrochen wurde, der verlangte, daß sie Klatsch erzählte oder über ihr Problem sprach.

Doch solange Chveja genug Zeit für sich allein hatte, kam sie mit den anderen gut aus — sogar mit Dza. Nun, da sie über den kindischen Unsinn hinweggekommen war, das »erste Kind« zu sein, war Dza eine gute Gefährtin, intelligent und fröhlich. Man mußte ihr sogar zugute halten, daß sie nicht eifersüchtig gewesen war, als man herausfand, daß von der dritten Generation an lediglich Chveja die Fähigkeit entwickelt hatte, die Beziehungen zwischen Personen wahrzunehmen, obwohl es Dzas und nicht Chvejas Mutter gewesen war, die dies zuerst gelernt hatte. Wenn Tante Huschidh wach war, verbrachte sie mehr Zeit mit Chveja als mit ihren eigenen Töchtern, doch Dza beschwerte sich nicht. Dza hatte Chveja sogar einmal angelächelt und gesagt: »Dein Vater unterrichtet uns die ganze Zeit. Ich werde nicht böse, weil meine Mutter dich jetzt gelegentlich unterrichtet.« Den Unterricht mit Tante Huschidh verglich sie damit, ein Buch zu lesen. Sie war ruhig, sie war geduldig, sie blieb beim Thema. Und sie hatte einem Buch eins voraus: Sie beantwortete Chvejas Fragen. Bei Tante Huschidh wurde Chveja plötzlich gesprächig. Vielleicht lag es daran, daß Tante Huschidh als einzige sah, was auch Chveja sah.

»Aber du siehst mehr«, sagte Tante Huschidh eines Tages. »Du hast auch Träume wie deine Mutter.«

Chveja verdrehte die Augen. »Es gibt auf diesem Raumschiff keinen See der Frauen«, sagte sie. »Es gibt keine Stadt der Frauen, die wegen mir ein riesiges Theater macht und an jedem Wort der Schilderung meiner Visionen hängt.«

»So war es wirklich nicht«, sagte Huschidh.

»Mutter hat es aber gesagt.«

»Nun, so ist es ihr vielleicht vorgekommen. Aber deine Mutter hat die Rolle der Wasserseherin niemals ausgenutzt.«

»Sie war auch nicht so nützlich wie … na ja, wie das, was wir können.«

Huschidh lächelte schwach. »Nützlich. Aber manchmal auch irreführend. Man kann Dinge falsch interpretieren. Wenn man zuviel über die Menschen weiß, heißt das noch lange nicht, daß man genug weiß. Weil man nämlich niemals weiß, warum sie der einen Person nahe stehen und der anderen nicht. Ich stelle Vermutungen an. Manchmal ist das ganz einfach. Manchmal liege ich hoffnungslos falsch.«

»Ich irre mich immer«, sagte Chveja, schämte sich aber nicht, dies vor Tante Huschidh einzugestehen.

»Immer zum Teil falsch«, sagte Huschidh. »Aber oft auch zum Teil richtig, und häufig stellst du wirklich sehr kluge Vermutungen an. Verstehst du, das Problem liegt darin, daß du sehr viel um die anderen Menschen geben mußt. Du mußt wirklich an sie denken, versuchen, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Du mußt versuchen, Zeit mit ihnen zu verbringen. Ihnen zuhören. Sich mit ihnen anzufreunden. Ich sage das nicht, weil ich es getan habe, als ich in deinem Alter war, sondern weil ich es nicht getan habe und jetzt weiß, wie sehr es mich behindert hat.«

»Und was hat das verändert?« fragte Chveja.

»Ich habe einen Mann geheiratet, der mit einem solchen ständigen inneren Schmerz lebte, daß mir meine eigenen Ängste und Scham und Leiden im Vergleich dazu wie kindisches Gejammer vorkamen.«

»Mutter sagt, lange, bevor du Onkel Issib geheiratet hast, bist du einem bösen Mann entgegengetreten und hast die Treue und Ergebenheit seines gesamten Heeres von ihm genommen.«

»Das konnte ich nur, weil es das Heer eines anderen Mannes war. Aber dieser Mann war tot, und deshalb empfanden die Soldaten sowieso keine große Treue für ihren Anführer. Es war nicht schwer, und ich habe es getan, indem ich blindlings um mich schlug und alles gesagt habe, was ihre ohnehin geringe Loyalität noch weiter schwächen konnte.«

»Mutter hat gesagt, du hättest ruhig und meisterhaft ausgesehen.«

»Das entscheidende Wort ist ›ausgesehen‹. Jetzt hör aber auf, Veja. Das weißt du doch alles selbst. Was tust du, wenn du schreckliche Angst hast und verwirrt bist?«

Da kicherte Chveja. »Ich stehe da wie ein erschrockenes Reh.«

»Wie erstarrt, nicht wahr? Aber für die anderen sieht es so aus, als wärest du vollkommen ruhig. Deshalb ziehen dich einige von den anderen manchmal auch so gnadenlos auf. Sie glauben, du bestündest aus Stein, und sie wollen die Oberfläche durchbrechen und menschliche Gefühle berühren. Sie wissen einfach nicht, daß du die größte Angst hast und am zerbrechlichsten bist, wenn du am meisten aus Stein wirkst.«

»Warum wissen sie es nicht? Warum verstehen die Menschen einander nicht besser?«

»Weil sie jung sind«, sagte Huschidh.

»Alte Menschen verstehen sich auch nicht besser.«

»Manche doch«, sagte Huschidh. »Diejenigen, die sich bemühen. Die es wenigstens versuchen.«

»Du meinst dich.«

»Und deine Mutter.«

»Sie versteht mich überhaupt nicht.«

»Das sagst du, weil du eine Heranwachsende bist. Und wenn eine Heranwachsende sagt, daß ihre Mutter sie nicht versteht, bedeutet das, daß ihre Mutter sie nur allzu gut versteht, ihr aber nicht ihren Willen läßt.«

Chveja grinste. »Du bist eine genauso eingebildete, arrogante Erwachsene wie alle anderen.«

Huschidh erwiderte das Lächeln. »Siehst du? Du lernst. Dieses Lächeln hat es dir erlaubt, mir genau das zu sagen, was du denkst, und es mir ermöglicht, es als Scherz aufzufassen, so daß ich die Wahrheit hören kann, ohne wütend werden zu müssen.«

»Ich versuche es«, sagte Chveja seufzend.

»Und du machst es ganz gut — für eine kleine, unwissende, schüchterne Heranwachsende.«

Chveja blickte sie entsetzt an. Dann zeigte Huschidh ein Lächeln.

»Zu spät«, sagte Chveja. »Du hast es so gemeint.«

»Nur ein wenig«, sagte Huschidh. »Aber andererseits sind alle Heranwachsenden ungebildet, und du kannst ja nichts dafür, daß du klein und schüchtern bist. Du wirst mit der Zeit größer.«

»Und schüchterner.«

»Aber manchmal auch kühner.«

Na ja, das stimmte. Kurz nachdem Huschidh zum letztenmal schlafen gegangen war, hatte Chveja einen Wachstumsschub eingelegt, und jetzt war sie fast so groß wie Dza und größer als alle Jungs außer Ojkib, der fast schon so groß wie Vater war, aber nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien und ständig gegen irgend etwas lief oder sich den Kopf oder die Zehen stieß. Chveja gefiel, wie er die Hänseleien der anderen mit einem wortlosen Grinsen hinnahm und sich niemals beschwerte. Außerdem gefiel ihr, daß er seine Größe niemals mißbrauchte, um die anderen Kinder herumzustoßen. Und wenn er bei Streitigkeiten vermittelte, stiftete er durch ruhige Überzeugung Frieden und nicht durch seine Größe und Kraft. Da sie Ojkib wahrscheinlich sowieso heiraten würde, freute Chveja sich, daß er sich zu einem solchen Mann entwickelte. Zu schade, daß er lediglich »klein und langweilig« dachte, wenn er sie ansah. Nicht, daß er es je gesagt hätte. Doch seine Blicke schienen stets an ihr vorbei zu gleiten, als würde er sie nicht einmal soweit zur Kenntnis nehmen, daß er sie ignorieren konnte. Und wenn er allein mit ihr war, ging er immer so schnell wie möglich, als würde es ihn beinahe umbringen, sich in ihrer Gesellschaft zu befinden.