Chveja wußte, damit war es geschafft. Obwohl die Furcht blieb, verblich in diesem Augenblick alle Loyalität, die die anderen Elemak vielleicht entgegengebracht hatten. Sie würden ihm noch immer gehorchen, aber niemand würde es mehr freiwillig tun. Selbst sein ältester Sohn, der achtjährige Protschnu, schaute seinen Vater voller Furcht und Entsetzen an.
Rasa und Schedemei kümmerten sich um Ojkib. »Ich glaube, er kommt wieder in Ordnung«, sagte Schedemei. »Wahrscheinlich hat er eine Gehirnerschütterung, und er wird nicht so bald wieder aufwachen, aber gebrochen ist nichts.«
Nachdem sie gesprochen hatte, herrschte lange Zeit Schweigen. Ojkib würde sich erholen — aber niemand konnte vergessen, wer ihm seine Verletzungen zugefügt hatte. Niemand konnte die brutale Härte des Schlages vergessen, die Wut, die dahinter steckte, den Anblick von Ojkib, der hilflos und wehrlos durch die Luft flog. Man würde Elemak gehorchen, soviel stand fest. Aber niemand würde ihn lieben oder bewundern. Er war nicht mehr der gewählte Anführer, jetzt nicht mehr, für keinen. Niemand stand auf seiner Seite.
»Luet«, sagte Elemak leise. »Du begleitest mich und Chveja. Und auch Issib. Ihr sollt euch davon überzeugen, daß es Nafai gut geht. Und ihr sollt auch Zeuge werden, daß er nie wieder das Kommando über dieses Schiff bekommen wird.«
Als Chveja Elemak die Leiter hinab auf eins der Lagerdecks folgte, fragte sie sich: Warum hatte er sie nicht sofort zu Vater geführt, als sie ihn darum bat? Es ergab keinen Sinn.
›Er hat dich nicht zu ihm gebracht, weil du es verlangt hast.‹
Wie kindisch von ihm.
›Nein, es war vernünftig. Wenn er seine Autorität durchsetzen wollte, mußte er sich von Anfang an völlige Kontrolle verschaffen.‹
Tja, das ist ihm gelungen.
›Im Gegenteil. Du und Ojkib, und schließlich auch Volemak, ihr habt ihn zerbrochen. Er hat bereits verloren. Vielleicht dauert es eine Weile, bis es ihm klar wird, aber er hat bereits verloren.‹
Das ließ Chveja glühenden Triumph empfinden, während sie Elemak in den Lagerraum folgte, in dem Vater gefangengehalten wurde.
Doch das Glühen legte sich schnell, als sie sah, wie sie ihn behandelt hatten. Vater lag auf der Seite auf dem Boden eines Lagerraums. Seine Handgelenke waren fest — brutal — im Rücken zusammengebunden. Chveja sah, daß die Haut über und unter der Schnur angeschwollen war, und seine Hände waren weiß. Sie hatten auch seine Knöchel zusammengebunden — genauso eng. Dann hatten sie die Beine hinter ihm hochgezogen, ihn schmerzhaft zurückgebogen, zwei Stricke von seinen Knöcheln zu seinen Schultern gezogen und sie vorher und nachher verknotet, so daß sie eng um seinen Hals lagen. Anschließend hatten sie die Stricke über seinen Leib wieder hinabgeführt, zwischen seinen Beinen hindurch, und sie über seinen Hinterbacken wieder mit den Handgelenken verknotet. Das Ergebnis war, daß die Stricke einen ständigen Druck ausübten. Vater konnte den Druck auf seinen Schultern und den Lenden nur lindern, wenn er die Beine noch höher nahm oder den Körper noch weiter nach hinten bog. Doch da sie ihn bereits so fest in diese Richtung zurückgezogen hatten, wie es ihnen möglich gewesen war, gab es keine Erleichterung für ihn. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht gerötet, und schnelle, flache Atemzüge verrieten Chveja, daß er Schmerzen hatte und ihm in dieser unmöglichen Position sogar das Atmen schwerfiel.
»Nafai«, murmelte Mutter.
Nafai schlug die Augen auf. »Hallo«, sagte er leise. »Seht ihr, wie ein kleiner Sturm auf See die Reise unterbrechen kann?«
»Wie klug du ihn gefesselt hast«, sagte Issib mit Gift in der Stimme. »Was für ein einfallsreicher Folterknecht du doch bist.«
»Die übliche Prozedur für unterwegs«, erwiderte Elemak, »wenn eine Person, die man braucht, sich unbedingt stur verhalten will. Man kann sie nicht umbringen, ihren Trotz aber auch nicht dulden. Normalerweise reicht es, wenn man ein paar Stunden so gefesselt liegt. Aber Nafai ist schon immer ein äußerst starrköpfiger Bursche gewesen.«
»Kannst du atmen, Nafai?« fragte Mutter.
»Kannst du es?« fragte Vater.
Erst jetzt merkte Chveja, daß die Luft wirklich sehr stickig und muffig war.
»Was meinst du damit?« fragte Elemak.
Issib antwortete für ihn. »Die Lebenserhaltung verkraftet es nicht, daß so viele Leute gleichzeitig wach sind«, sagte er. »Sie arbeitet bereits auf höchsten Touren. Wir werden im Laufe der Zeit immer weniger Sauerstoff bekommen.«
»Kein Problem«, sagte Elemak. »Wir lassen einfach all die Leisetreter und Lügner und ihre übergroßen Kinder den Rest der Reise schlafen.«
»Das wirst du nicht tun«, flüsterte Vater.
Elemak betrachtete ihn gelassen. »Ich glaube, wenn ich den Index habe, wird der Schiffscomputer tun, was ich will.«
Vater antwortete nicht einmal.
»Der Index, Chveja«, sagte Elemak. »Ich habe mein Wort gehalten.«
»Binde ihn los«, sagte Chveja.
»Das kann er nicht«, sagte Issib. »Nafai hat den Mantel. Man kann ihn ihm nicht nehmen. Wenn er ihn freiläßt, hat Nafai sofort wieder die Kontrolle über das Schiff. Dann könnte niemand etwas gegen ihn ausrichten.«
Das also hatte er erreicht, indem er die Zwillinge als Geiseln nahm. Vater hatte sich freiwillig so fesseln lassen, damit seinem Nachwuchs nichts geschah. Zum erstenmal wurde Chveja wirklich klar, wie machtlos Eltern waren. Nur Leute ohne Kinder konnten wirklich nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Sobald man sich um Kinder kümmern mußte, konnte man immer von jemandem beherrscht werden.
»Kannst du die Fesseln nicht lockern?« fragte Chveja. »Du mußt ihn doch nicht so verdrehen.«
»Nein, das muß ich nicht«, sagte Elemak. »Aber ich will es. Schließlich bin ich böse und schrecklich und gewalttätig.« Er musterte sie ruhig. »Der Index, Chveja, oder deine Mutter wird hier neben ihm auf dem Boden liegen. Es tut ihm nicht weh — nicht ganz so schlimm —, denn der Mantel heilt ihn. Aber sie wird er nicht heilen.«
Chveja spürte, wie Mutter sich neben ihr versteifte. »Das wirst du nicht tun«, sagte sie.
»Ach nein? Da du und Ojkib und Vater bereits dafür gesorgt haben, daß alle mich hassen, wird es dadurch nicht schwerer für mich. Und wenn ich beweise, daß ich eine Frau genauso brutal wie einen Mann behandeln kann, bleiben mir vielleicht weitere Einmischungen von großmäuligen kleinen Miststücken wie dir erspart.«
»Sag es ihm«, verlangte Vater. Seine Stimme klang wie die personifizierte Niederlage.
Sie hatte es aus seinem Munde gehört. Mit weiterem Widerstand konnte sie nichts mehr erreichen. »Ich werde dich zu ihm führen«, sagte sie. »Der Index ist in der Zentrifuge. Aber du mußt warten, bis sie sich nicht mehr dreht. Solange sie sich bewegt, kannst du ihn nicht herausholen.«
»In den Maschinen also?« sagte Elemak. »All diese Mühe — und irgendwann wäre ich selbst darauf gekommen. Na schön, raus mit euch allen. Ich schließe dir Tür hinter mir ab und werde ununterbrochen Wachen aufstellen. Glaubt also nicht, ihr könntet euch hier herunterschleichen und ihn losbinden. Ich könnt von Glück sprechen, daß ich ihn nicht schon längst getötet habe.«
Für einen Augenblick fragte Chveja sich: Warum hat Elemak ihn nicht bereits getötet? Er hat es doch schon mal versucht, oder? Es muß am Mantel liegen. Man kann Vater nicht mehr so leicht umbringen. Nicht, solange er im Schiff oder auch nur in dessen Nähe ist. Elemak kann ihn wahrscheinlich nicht mal berühren, geschweige denn, ihm etwas antun — nicht, solange Vater es nicht zuläßt. Und sollte Elemak versuchen, ihn zu töten, wäre wahrscheinlich nicht mal eine bewußte Anstrengung Vaters nötig, damit der Mantel zurückschlägt. Wahrscheinlich würde er automatisch aktiv werden. Oder vielleicht beherrscht die Überseele ihn. Aber die agiert auch automatisch, oder? Denn in Wirklichkeit ist die Überseele nur ein Computer.