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›Hast du etwa geglaubt, dieser Tag würde nie kommen? Hast du geglaubt, Elemak würde sich niemals gegen euch stellen, wenn ihr alles richtig macht? Besser, er tut es hier, wo ich noch eine gewisse Kontrolle über die Dinge habe, als auf der Erde, wo ihr völlig auf euch selbst angewiesen sein werdet.‹

O nein, wir werden auf der Erde nicht auf uns allein gestellt sein. Dort wird der Hüter der Erde auf uns achten. Und wenn er nur halb soviel Liebe für uns empfindet und halb soviel Obhut walten läßt wie du, werden wir alle innerhalb eines Jahres tot sein.

›Der Hüter ist viel mächtiger als ich.‹

Freut mich, das zu hören.

›Ich verstehe deinen Zorn. Laß ihn nur nicht dein Urteilsvermögen bewölken.‹

Nein, wir müssen klare Entscheidungen treffen können, während wir keuchen, um genug Sauerstoff zu bekommen, während wir zusehen, wie unsere Kinder träge und apathisch werden, während wir daran denken, wie unser Gatte gebogen und verzerrt dort liegt, die Hände und Füße von Fesseln abgeschnürt …

So verlief Luets Gespräch mit der Überseele, Stunde um Stunde. Sie wußte, wenn ihr Zorn verraucht war, würde sie verstummen, sich mit der Situation abfinden, der Überseele schließlich wahrscheinlich sogar beipflichten, daß die Dinge ein gutes Ende nehmen würden. Doch noch war dem nicht so. Und wenn das die beste Entwicklung war, die die Dinge nehmen konnten, wollte sie gar nicht wissen, wie die schlechteste aussah — oder auch nur die zweitbeste. Aber das war dasjenige, was sie nie erfahren würden: was geschehen wäre. Die Leute sprachen immer so, als könnte man es wissen. »Wäre doch nur der Alarm nicht losgegangen.« — »Wäre Nafai als Junge doch nicht so ein Klugscheißer gewesen.« Das war Nafais Lieblingsspruch, wie Luet sehr wohl wußte, da er gern die Schuld an allem auf sich nahm. Aber Luet wußte auch, niemals verursachte nur ein Ereignis etwas, und könnte man tatsächlich diesen einen Vorgang verändern, war damit keineswegs sichergestellt, daß die Folgen verschwanden oder die Dinge auch nur einen besseren Verlauf nahmen.

Eines Tages werde ich diese tiefe, unvernünftige Wut auf die Überseele nicht mehr empfinden. Aber nicht jetzt, nicht, da der Anblick Nafais in diesen grausamen Fesseln noch so frisch in meiner Erinnerung ist, so lebendig in meinen Alpträumen. Nicht, solange meine Kinder nach jedem Schluck keuchen. Nicht, solange der blutrünstige Elemak die Menschen an Bord dieses Schiffes beherrscht.

Hätten wir doch nur der Überseele widerstanden und die Kinder während der Reise schlafen lassen.

In ihrem Herzen tobte sie, machte der Überseele schwere Vorwürfe, dachte sich lange, boshafte und scharfe Reden aus, von denen sie wußte, sie würde sie niemals Elemak oder Mebbekew oder denen vortragen können, die sie unterstützten. Doch den anderen zeigte sie ein ruhiges, unbewegtes Gesicht. Zuversichtlich, furchtlos, nicht mal verärgert — so gab sie sich vor den anderen. Sie wußte, damit würde sie Elemak und seine Gefolgschaft stärker beunruhigen als auf jede andere Art und Weise. Daß sie nicht beunruhigt zu sein schien, würde die anderen beruhigen. So wenig dies auch war — mehr konnte Luet nicht tun.

Sie. Wir. Insgeheim dachte Luet von Elemaks Gefolgsmännern und ihren Familien als den ›Elemaki‹ — Elemaks Volk — und von denen, die während der Reise am Unterricht teilgenommen hatte, als den »Nafari«. Normalerweise dienten solche Endungen dazu, Nationen oder Stämme zu bezeichnen. Aber sind wir hier auf diesem Schiff nicht Stämme, ganz gleich, wie wenige wir auch sein mögen? fragte sie sich.

Elemak verlangte, daß die Nafari-Familien ihre Mahlzeiten gleichzeitig in der Bibliothek einnahmen. Danach brachten er oder Meb jede Familie in ihr enges Quartier zurück und verriegelte die Tür. Während sie unterwegs waren, hielten Vas und Obring Wache. Luet musterte sie während der Mahlzeiten in der Bibliothek eindringlich. Ihre Aufgaben schienen ihnen nicht ganz genehm zu sein, doch Luet konnte nicht sagen, ob es daran lag, daß sie sich schämten, oder ob sie lediglich nicht sehr zuversichtlich waren, sich in einer körperlichen Auseinandersetzung behaupten zu können.

Einige der Elemaki-Frauen unternahmen während der Mahlzeiten in der Bibliothek halbherzige Versuche, Gespräche zu führen, doch Luet zeigte durch keine Geste, keinen Gesichtsausdruck, geschweige denn durch ein einziges Wort, daß sie diese Frauen Kenntnis nahm. Sie gaben ihre Bemühungen wütend auf, besonders Kokor, Tante Rasas jüngere Tochter, die schnippisch sagte: »Du hast dir das sowieso alles selbst eingebrockt, weil du so vornehm getan hast, als man dich noch Wasserseherin genannt hat.« Da dies nicht das geringste mit dem derzeitigen Konflikt zu tun hatte, war Luet klar, daß Kokor nur ihren uralten Groll gegen sie zum Ausdruck brachte. Es fiel Luet schwer, nicht über Kokor zu lachen.

Luets Schweigen gegenüber den Elemaki-Frauen beruhte nicht auf Zorn. Ihr war völlig klar, daß sie nichts mit den Entscheidungen der Männer zu tun hatten, daß Mebs Frau Dol und Elemaks Frau Eiadh zutiefst entsetzt darüber waren, was ihre Männer taten. Doch Luet wußte auch, daß sie sich viel besser fühlen würden, würde sie zulassen, daß sie ihr ihr Mitgefühl zum Ausdruck brachten und die unsichtbare Grenze zwischen den Elemaki und den Nafari überschritten. Vielleicht würden sie sich richtig wohl fühlen, sogar edelmütig, weil sie Nafais in die Enge getriebener Frau ihre Freundschaft angeboten hatten. Luet aber wollte nicht, daß sie sich besser fühlten. Sie wollte, daß sie sich unbehaglich fühlten, so unwohl, daß sie anfingen, sich bei ihren Gatten zu beschweren, bis der Druck endlich so groß wurde, daß die anderen das Mißfallen und die Verachtung ihrer Frauen so sehr fürchteten, wie sie Elemak fürchteten, und Elemak selbst schließlich glauben mußte, daß sein Vorgehen ihn in seiner Familie mehr kostete, als er gewinnen konnte, wenn er jenem verdrehten Teil seiner Psyche folgte, der seinen Haß auf Nafai barg.

Natürlich bestand immer die Gefahr, daß zusätzlicher Druck von seiner Frau Elemak noch unversöhnlicher machte. Doch Luet stand lediglich die Möglichkeit offen, die Elemaki-Frauen zu schneiden, und diese Chance nahm sie wahr.

Ungewöhnlich war lediglich, wie Zdorab und Schedemei behandelt wurden. Auch sie wurden bewacht, genau wie Luet, Huschidh und Issib und Rasa und Volemak überall hin begleitet. Doch in der Bibliothek konnten sie sich ungehindert bewegen und unterhalten; man forderte sie und ihre Kinder sogar auf, sich zu den Elemaki zu setzen.

Dies führte Luet zu der unausweichlichen Schlußfolgerung, daß der Alarm, der alle Tiefschlafkammern geöffnet hatte, kein Zufall gewesen, sondern daß es Zdorab irgendwie gelungen war, nicht nur einen, sondern zwei Weckrufe einzugeben, und daß die Überseele den zweiten nicht gefunden hatte. Schedemei konnte nichts davon gewußt haben; und es war auch kaum damit zu rechnen, daß Zdorab selbst es gewußt hatte, denn hatte er sich nicht an ihren Plänen beteiligt und ihnen geholfen, die Kinder zu unterrichten? Waren sein Sohn und seine Tochter nicht mit den anderen Kindern aufgewachsen? Was für einen verdrehten Verstand mußte er haben, wenn er die Freundschaft der Nafari bereitwillig akzeptierte und doch die ganze Zeit über wußte, daß sein Weckruf Nafais Leben in Gefahr bringen und die gesamte Gemeinschaft schlimmer denn je spalten würde? Nein, sie konnte es sich einfach nicht vorstellen. Zdorab konnte es nicht getan haben. Niemand konnte so doppelzüngig sein, so …

Und doch saß Zdorab — neben ihm sein Sohn Rokja — direkt gegenüber von Mebs Frau Dolja. Schedemei hingegen hielt sich von den anderen fern. Ihre Scham war fast spürbar. Sie ließ ihre Tochter Dabja nicht aus den Augen und sagte nur etwas, wenn sie angesprochen wurde. Sie sah niemanden an, schaute beim Essen auf den Teller und verließ den Raum dann so schnell wie möglich. Luet hätte liebend gern Chveja oder Huschidh gebeten, die Verhältnisse abzuschätzen und herauszufinden, wo Zdorabs Loyalität lag. Doch man hatte ihr verboten, mit Huschidh zu sprechen, und Chveja wurde ebenfalls von allen anderen abgesondert. Auch Ojkib wurde von den anderen Kindern ferngehalten; den beiden war es in der Tat gelungen, sich Elemaks besondere Aufmerksamkeit zu verschaffen.