»Ich habe in den letzten beiden Tagen echten Mut erlebt«, sagte Zdorab. »Ich selbst hatte ihn nie — nicht den Mut, der offen zutage tritt, selbst wenn man machtlos ist und den Starken herausfordert, sein Bestes zu geben. Chveja. Ojkib. Mein Leben wäre anders verlaufen, hätte ich jemals so gehandelt.« Dann lachte er verbittert auf. »Ja, wahrscheinlich wäre ich tot.«
Luet kam in den Sinn, daß sie fast nichts von Zdorab wußte, von seiner Erziehung. Er sprach, als hätte er sein ganzes Leben lang ohne Freunde und in Furcht verbracht. Warum?
Trotz allem mußte sie eingestehen, daß die Dinge von seiner Warte aus vielleicht ganz anders aussahen. Sie hatte keine Wahl — sie mußte alles tun, was in ihrer Macht stand, um Nafai und der Überseele zu helfen, sich gegen Elemak durchzusetzen. Denn sollten sie den Sieg nicht davontragen, blieb ihnen gar nichts mehr. Doch Zdorab konnte sich eine Zukunft vorstellen, in der Elemak gesiegt hatte. Und sollte dieser Fall eintreten — und das war durchaus vorstellbar —, war es für ihn moralisch ohne weiteres zu vertreten, sich in Elemaks Lager einen Platz für sich selbst und seine Kinder zu verschaffen.
Das Problem war, daß er letztlich vielleicht auf keiner Seite einen Platz fand. Und genau darauf steuerten die Dinge im Augenblick zu.
Als sie wieder das Wort ergriff, klang ihre Stimme nicht mehr so kalt. »Zdorab, was du gesagt hast, ist nicht auf taube Ohren gestoßen. Falls du dir Sorgen um die Zukunft machst, kann ich dir folgendes mit völliger Überzeugung sagen: Keiner von uns wird sich an dir rächen, und ganz bestimmt nicht an deinen Kindern. Sie haben ihren Platz bei uns nicht verloren, falls du möchtest, daß dies ihr Platz ist.«
»Elemak wird diese Auseinandersetzung verlieren«, sagte Zdorab. »Die Frage lautet nur, wie viele sterben werden, bevor er besiegt ist.«
»Keiner, hoffe ich«, erwiderte Luet.
»Ich will damit nur sagen, daß mich der reine Eigennutz hierher geführt haben könnte. Du hast keinen Grund, mir zu vertrauen. Ich habe euch alle getäuscht. Ich habe gedacht, ich wäre einer von euch, und ich habe euch verraten. Das werdet ihr niemals vergessen können. Ich kann es ganz bestimmt nicht. Aber auf eins könnt ihr euch verlassen: Sollten Nafai oder du mich je wieder brauchen, werde ich zur Stelle sein. Ganz egal, was geschieht. Selbst wenn ich bei dem Versuch sterbe, euch zu helfen.«
Luet gelang es mit knapper Not, eine verächtliche, spöttische Antwort zu unterdrücken.
»Ich tue das nicht für mich«, sagte Zdorab. »Eigentlich auch nicht für euch. Ich will nur … es ist die einzige Möglichkeit, wie ich meine Ehre in den Augen meiner Kinder wiederherstellen kann. Früher oder später werden alle wissen, was ich getan habe. Deshalb habe ich mir auch nicht die Mühe gemacht, dieses Gespräch vor deinen Kindern zu verbergen, die dort mit geschlossenen Augen wachliegen. Meine Kinder werden sich meiner schämen, auch, wenn niemand sie deshalb verspottet. Irgendwie, eines Tages, muß ich mich in ihren Augen als würdig erweisen. Das bedeutet für mich das Überleben. Ich dachte, es ginge nur darum, am Leben zu bleiben; aber das ist nicht der Fall. Niemand lebt ewig. Es kommt nur darauf an, wie man mich in Erinnerung behalten wird. Es geht darum, was meine Kinder von mir denken werden, nachdem ich tot bin. Das ist Überleben.« Er blickte Luet ruhig in die Augen. »Und wenn man eins von mir behaupten soll, dann das: Ich überlebe.«
Er erhob sich von der Bettkante, auf der er gesessen hatte. Luet öffnete die Tür, und er ging.
Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, sprach Zhatva leise in die Stille im Zimmer. »Ich bin froh, daß ich nicht in seinen Schuhen stecke.«
»Sei dir da nicht so sicher«, erwiderte Luet trocken. »Unsere Schuhe sind im Augenblick auch nicht besonders bequem.«
»Wäre ich doch nur so tapfer wie Veja«, sagte Zhatva.
»Nein, nein, Zhjat, denk nicht so was. Sie war in einer Lage, in der man mit Tapferkeit etwas erreichen konnte. Bei dir war das nicht der Fall. Sollte jemals die Zeit kommen, da du Mut brauchst, wirst du ihn haben. Genug Mut. Soviel, wie du brauchst.« In Gedanken fügte sie hinzu: Möge dieser Tag, an dem du Mut brauchst, niemals kommen. Doch schon, als sie dies dachte, wußte sie, daß der Tag kommen würde. Sie erschauderte.
Oh, Nafai, sagte sie stumm. Könntest du mich doch nur so hören, wie die Überseele mich hört. Wüßtest du doch nur, wie sehr ich dich liebe, wie sehr mich die Vorstellung schmerzt, was du durchmachst. Und ich kann nur eins für dich tun … mich um die Kinder zu kümmern, so gut es mir möglich ist, und auf die Überseele und die menschliche Natur vertrauen, daß sie ein Wunder wirken und dich befreien. Ich tue, was ich kann, doch es ist nicht genug. Was für ein Leben gibt es für mich noch, solltest du sterben? Selbst wenn den Kindern nichts geschieht, selbst wenn sie zu guten, starken, wunderbaren Erwachsenen heranwachsen, wird es nicht genügen, nicht, wenn ich dich verliere. Die Überseele mag uns als Figuren in ihrem Spiel zusammengebracht haben; aber das heißt nicht, daß die Verbindung zwischen uns deshalb schwächer sein muß. Sie ist stark, viel stärker als die Seile, mit denen sie dich gefesselt haben. Aber ohne dich an meiner Seite komme ich mir vor, als wäre ich gefesselt, in meiner Seele zusammengeschnürt und unfähig, mich zu bewegen, unfähig, auch nur zu atmen. Nafai.
Sein Name hallte durch ihren Verstand. Die Erinnerung an sein Gesicht versengte sie. Sie legte sich auf ihr Bett, bemüht, sich zu entspannen und den Schlaf herbeizuzwingen. Je weniger Sauerstoff ich atme, desto mehr wird er haben, desto mehr werden die Kinder haben. Ich muß schlafen. Ich muß ruhig sein.
Doch sie war nicht ruhig, und als sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel, raste ihr Herz, und sie tat schnelle, kurze, scharfe Atemzüge, als würde sie mit einem übermächtigen Gegner kämpfen, der immer wieder auf sie einstach, während sie ihm kaum ausweichen konnte.
Bei der ersten Mahlzeit am dritten Tag war Elemak nicht in der Bibliothek. Wo er sich aufhielt, wagte niemand zu fragen. Eigentlich interessierte es auch niemanden. Wenn er fort war, blieb die Vorsicht; die echte Angst kam erst mit ihm zurück. Dies lag keineswegs daran, daß die anderen auf die Gutmütigkeit von Meb, Obring und Vas vertrauten. Meb schien Freude an kleinen Grausamkeiten zu haben, und Obring genoß allem Anschein nach seinen Status als ein Mann, der an der Macht beteiligt war. Doch alle wußten, daß jeder von ihnen Elemak auf der Stelle verraten würde, wäre er der Ansicht, einen Vorteil daraus ziehen zu können. Vas hingegen schien zu verabscheuen, was er tat; dennoch tat er es, und auf ihn verließ Elemak sich am meisten. Elemak konnte ihm eine Aufgabe geben und sich darauf verlassen, daß Vas sie einfallsreich und gut ausführte, selbst wenn er ihn dabei nicht im Auge behielt — was man von den beiden anderen Elemaki-Männern nicht unbedingt behaupten konnte.
Doch als Elemak an diesem Tag nicht anwesend war, wurde seine Autorität zum erstenmal offen herausgefordert. Volemak erhob sich, nachdem er Rasa angeschaut hatte, und wandte sich an die Gruppe.
»Meine Freunde und Familienangehörigen«, begann er.
»Setz dich und halt die Klappe«, sagte Mebbekew.
Volemak richtete einen Blick auf seinen zweiten Sohn — einen Blick, der so starr wie der einer Schlange war — und fuhr fort: »Versuche ruhig, mich zum Schweigen zu bringen. Doch wenn du keine körperliche Gewalt einsetzt, werde ich sagen, was ich zu sagen habe.«
Meb machte einen Schritt auf seinen Vater zu. Obwohl sie in keiner Hinsicht dazu aufgefordert worden waren, erhoben sich augenblicklich Volemaks jüngster Sohn Yasai, Issibs ältester Sohn Zaxodh und Nafais Ältester, Zhatva. Sie befanden sich nicht in Volemaks Nähe, doch die Drohung war eindeutig.