»Wenn ich nicht wüßte, daß du ein Computerprogramm bist, würde ich sagen, du bist ein aufdringliches, ekelhaftes altes Miststück.«
›Sei ruhig wütend auf mich, wenn du willst. Das verletzt meine Gefühle nicht. Ich verstehe dich sogar. Aber du mußt die großen Zusammenhänge sehen, Luet. Ich sehe sie.‹
»Ja, du siehst so große Zusammenhänge, daß dir kaum auffällt, wie du das Leben von kleinen Eintagsfliegen wie uns zerstörst.«
›Ist dein Leben bislang so schrecklich gewesen?‹
»Sagen wir mal … es ist nicht wie erwartet verlaufen.«
›Aber ist es so schrecklich gewesen?‹
»Halt endlich die Klappe und laß mich in Ruhe.«
Luet warf sich auf dem Bett zurück und versuchte zu schlafen.
Doch sie dachte immer wieder daran: Huschidh hat gesehen, daß ich mit den anderen unserer Gemeinschaft nicht mehr verbunden bin. Das heißt, ich hege irgendwo in meinem Herzen bereits die unbewußte Absicht, den Auftrag der Überseele auszuführen. Also kann ich auch gleich aufgeben und es bewußt tun.
Ja, ich tue es und verbringe dann den Rest meines Lebens mit dem Wissen, daß meine Schwester und Tante Rasa und die liebe Schedemei mich alle hassen werden und ich ihren Haß absolut und uneingeschränkt verdient habe.
2
Das Antlitz des Alten
Alle rechneten damit, daß Kitis diesjährige Skulptur ein Porträt seines Ander-Ichs sein würde, kTi. Das war auch Kitis Absicht — bis zu dem Augenblick, da er am Flußufer den Ton fand und sich an die Arbeit machte, indem er ihn mit dem Speer aufbrach und lockerte. Kein junger Mann im Dorf war besser gelitten als kTi; in keinen setzte man größere Hoffnungen. Es hieß, daß eine der großen Damen ihn als Ehemann erwählen und ihm eine Lebensehe anbieten würde; ein außergewöhnlicher Vorgang bei einem so jungen Mann. Wäre es dazu gekommen, wäre Kiti als kTis Ander-Ich ebenfalls in die Ehe übernommen worden. Schließlich waren er und kTi ja identisch, und da spielte es keine Rolle, wer von ihnen der Erzeuger eines besonderen Kindes sein würde.
Aber Kiti wußte, daß er und kTi nicht identisch waren. Oh, ihre Körper waren gleich, wie bei jedem anderen Geburtspaar. Da etwa bei einem Viertel aller Geburtspaare beide Individuen bis zur geschlechtlichen Reife überlebten, war es gar nicht so selten, zwei identische junge Männer vorzufinden, die sich den Damen des Dorfes anboten, um als Paar akzeptiert oder abgelehnt zu werden. Der Brauch und die Höflichkeit schrieben also vor, daß jedermann Kiti denselben Respekt erwies wie seinem Ander-Ich. Aber alle wußten, daß kTi und nicht Kiti ihren Ruf erworben hatte, klug und stark zu sein.
Doch es war nicht völlig zutreffend, daß kTi das gesamte Verdienst zufiel, clever zu sein. Wenn die beiden gemeinsam flogen, eine der Herden des Dorfes hüteten, nach Teufeln Ausschau hielten oder Krähen von den Maisfeldern verjagten, sagte Kiti oft: Diese Ziege wird bestimmt dort entlang gehen, oder: Diesen Baum werden die Teufel wahrscheinlich benutzen wollen. Und am Anfang ihrer berühmtesten Heldentat war es Kiti gewesen, der gesagt hatte: Laß mich so tun, als läge ich verletzt auf diesem Ast, während du mit deinem Speer auf jenem höheren Ast dort wartest. Doch wenn die Geschichte erzählt wurde, schien es immer kTi zu sein, der an alles dachte. Warum sollten die Leute also etwas anderes annehmen? Stets war es kTi, der handelte; stets war es kTi, dessen Kühnheit den Erfolg gewährleistete, während Kiti ihm folgte, ihm half, ihn manchmal rettete, ihm aber nie voranging.
Natürlich konnte er das niemandem erklären. Es wäre zutiefst beschämend für einen Teil eines Geburtspaars gewesen, seinem Ander-Ich den Ruhm nehmen zu wollen. Und außerdem war die Regelung, soweit es Kiti betraf, vollkommen fair. Denn ganz gleich, wie gut eine von Kitis Ideen gewesen sein mochte, stets setzte erst kTis Kühnheit sie in die Tat um.
Warum war es so gekommen? Kiti mangelte es nicht an Mut, oder? Flog er nicht immer auf ihren gewagtesten Abenteuern direkt neben kTi? War es nicht Kiti gewesen, der zitternd auf einem Ast sitzen und so tun mußte, als wäre er verletzt und hätte schreckliche Angst, während er die schwachen Geräusche hörte, mit denen sich im Baumstamm eine Teufeltür öffnete, und das leise Kratzen, mit denen sich die Hände und Füße des Teufels auf dem Ast hinter ihm einen Zentimeter um den anderen voranbewegten? Warum begriff niemand, daß der größte Mut darin bestand, still dort zu sitzen, zu warten und darauf zu vertrauen, daß kTi noch rechtzeitig mit seinem Speer kam? Nein, die Geschichte, die im Dorf erzählt wurde, drehte sich lediglich um kTis wagemutigen Plan, um kTis Triumph über den Teufel.
Es war böse von mir, so wütend zu sein, dachte Kiti. Deshalb wurde mein Ander-Ich mir genommen. Deshalb hat der Sturm uns im Freien überrascht. kTis Füße und Finger löste der Wind vom Ast, kTi wurde in den Himmel befördert, um mit den Göttern zu fliegen. Kiti war dessen nicht würdig, und deshalb hielt sein Griff um den Ast, bis Wind davonging. Es war, als wolle Wind ihm sagen: Du hast dein Ander-Ich beneidet, also habe ich euch auseinandergerissen, um dir zu zeigen, wie unwürdig du ohne kTi bist.
Deshalb hatte Kiti vor, das Gesicht seines Ander-Ichs zu formen. Und genau deshalb konnte er es letztlich nicht. Denn wollte er kTis Gesicht formen, hätte er auch sein eigenes Gesicht formen müssen, und das konnte er in seiner tiefen Unwürdigkeit nicht ertragen.
Und doch mußte er irgend etwas formen. Der Speichel floß bereits in seinem Mund, um den Ton zu befeuchten, um daran zu lecken, ihn zu glätten und der fertigen Skulptur eine schimmernde Patina zu geben. Aber es wäre ruchlos, so kurz nach kTis Tod nicht das Gesicht seines Ander-Ichs zu formen. Man würde dies als Mangel an natürlicher Zuneigung betrachten. Die Damen würden glauben, er habe seinen Bruder nicht geliebt, und deshalb seinen Samen nicht in ihrer Familie haben wollen. Nur eine schlichte, einfache Frau würde sich ihm anbieten. Und er würde, überwältigt vom Tonfieber, dieses Angebot wie ein eifriger Junge akzeptieren, und sie würde seine Kinder zur Welt bringen, und er würde sie von da an Jahr um Jahr ansehen und daran denken müssen, daß er der Vater so niederer Kinder war, weil er es nicht hatte über sich bringen können, das Gesicht seines geliebten kTis zu formen.
Ich habe ihn geliebt, beharrte er stumm. Mit ganzem Herzen habe ich ihn geliebt. Bin ich ihm nicht dorthin gefolgt, wohin er gehen wollte? Habe ich ihm nicht immer wieder mein Leben anvertraut? Habe ich ihn nicht immer wieder gerettet, wenn seine Ungeduld ihn in Gefahr gebracht hatte? Habe ich ihn nicht sogar zur Umkehr gedrängt? Ein Sturm zieht auf! Komm, suchen wir einen Zufluchtsort! Wir müssen Schutz finden! Was für eine Rolle spielt es schon, ob wir den Teufelweg auf diesem Flug oder dem nächsten finden? Kehren wir um, kehren wir um! Und er wollte nicht. Er hat mich ignoriert, als gäbe es mich gar nicht, als wäre ich nichts, als hätte ich nicht mal eine Stimme, wenn es um mein Überleben ging, geschweige denn um das seine.
Der Ton wurde feucht, ballte sich zusammen und floß bereits in seinen Händen, doch genauso viele Tränen wie Speichel befeuchteten ihn. O Wind, du hast mein Ander-Ich genommen, und jetzt kann ich sein Gesicht nicht im Ton finden. Gib mir eine Form, o Wind, falls ich würdig bin! O Mais, falls ich dir Töchter schenken soll, auf daß sie deine Felder hüten, gib meinen Fingern Wissen, selbst wenn mein Verstand abgestumpft ist. O Regen, fließe mit meinem Speichel und meinen Tränen und lasse den Ton unter meinen Händen leben! O Erde, du tief verbrennende Mutter, mach meine Knochen klug, denn eines Tages werden sie wieder dir gehören. Laß mich dir andere Knochen bringen, junge Knochen, Kindknochen aus deinem Ton, o Erde! Laß mich dir junge Schwingen in deine Hände geben, o Wind! Laß mich neue Getreidekörner des Lebens für dich machen, o Mais! Laß mich neue Wassertrinker bringen, neue Weiner, neue Bildhauer, die du schmecken kannst, o Regen!