»Ich bin kein Wurm, und du …«
»Nur zu, Fusum, mein lieber Junge, mein hilfloses hübsches Baby, fahre fort.«
Fusum schüttelte den Kopf.
»Du wolltest sagen: ›Und du bist kein Gott.‹ Nicht wahr? Seien wir doch ehrlich zueinander.«
»Ich habe deine Hände auf meinem Körper gespürt«, sagte Fusum. »Es waren nicht die Hände eines Gottes.«
»Ach was«, sagte Elemak. »Du hast zweifellos schon viele Götter berührt und weißt also, wie ihre Hände sich anfühlen.«
Fusum antwortete nicht.
»Ich werde dir sagen, wie meine Hände sich anfühlen. Sie fühlen sich an, als gehörten sie einem Mann, der stärker, klüger, schneller und haßerfüllter ist als du.«
Fusum betrachtete ihn. »Ein Mann, sagst du.«
»Ein Mann, sage ich«, erwiderte Elemak. »Kein Gott.«
»Stärker, ja«, sagte Fusum. »Heute zumindest. Heute auch schneller. Klüger — vielleicht. Heute.«
»Immer, Fusum«, sagte Elemak. »In zehntausend Jahren könnte dein ganzes Volk nicht lernen, was ich in diesem Augenblick weiß.«
»Klüger«, gestand Fusum ein. »Aber niemals haßerfüllter als ich.«
»Du bist nicht der Ansicht? Dann erzählen wir uns doch ein paar Geschichten und vergleichen sie.«
Und das taten sie. Und als der erste lange gemeinsame Tag verstrichen war, als Elemak Fusum endlich zu essen brachte, da waren sie nicht mehr Gefangener und Kerkermeister, oder Geisel und Wächter, oder Mann und Gott. Sie waren Verbündete, zwei Männer, die in ihrem jeweiligen Volk die Macht verloren hatten, aber entschlossen waren, ihre gegenseitige Freundschaft zu benutzen, um die Vorherrschaft über ihre Rivalen in ihrem jeweiligen Volk wiederzugewinnen. Dazu waren Geduld und Planung erforderlich. Und viel Zeit. Aber sie hatten Zeit, oder? Und Geduld konnte man von einem Tag zum anderen erlernen. Elemak war ja gerade dabei. Warum sollte es Fusum nicht ebenfalls gelingen?
»Vergiß nur nicht«, sagte Elemak zu ihm, als Fusum lautstark über seine Mahlzeit herfiel, »falls du einmal glauben solltest, daß du es auch ohne mich schaffen kannst, werde ich diesen Gedanken in deinem Kopf sehen, bevor du selbst ihn bemerkst. Und wenn du dich dann umdrehst, um mir ein Messer in den Rücken zu stoßen, wirst du feststellen, daß mein Messer bereits in deinem steckt.«
Fusum lachte, das schnaufende, zischende Lachen eines Wühlermannes. »Jetzt weiß ich, daß ich dir mein Leben anvertrauen kann.«
»Das kannst du«, sagte Elemak. »Und ich wollte dir lediglich sagen, daß ich dir meins niemals anvertrauen werde.«
Als Nafai und Luet, Issib und Huschidh zum Dorf der Engel aufbrachen, trugen sie ihre Werkzeuge auf ihren Rücken — oder in Issibs Fall auf dem Stuhl, der ihnen folgte. Yasai und Ojkib waren eine Woche zuvor auf den betreffenden Gipfel geklettert und hatten die Relaisantennen angebracht, so daß Issib den Weg in die Schlucht problemlos hinaufschweben konnte. Doch seinen Stuhl hatten sie mitgenommen, falls schlechtes Wetter einsetzte oder jemand ihm die Flossen stehlen sollte, während er schlief.
Ihre kleinen Kinder hatten sie in der Obhut der anderen zurückgelassen. Falls bei ihrem ersten Kontakt mit dem Dorf der Engel alles gut verlief, würden sie Häuser bauen und dann zurückkehren, um die Kinder zu holen — und Saatgut, zusätzliche Kleidung und Unterrichtsmaterial. Sie hofften, zur Zeit der Aussaat in dieser Höhe einen voll funktionsfähigen Hof errichtet zu haben. Falls alles gut verlief.
pTo und Poto führten sie die Schlucht hinauf. Von Zeit zu Zeit stiegen sie in die Luft empor, kreisten und landeten dann wieder, damit die Menschen mit ihnen sprechen konnten, wenn sie sie eingeholt hatten. Sie alle wußten ganz genau, daß viele Engel die Vorstellung zurückgewiesen hatten, sich mit den Menschen anzufreunden — den Alten. Aber sie hatten eine Rede vorbereitet, von der sie hofften, das Volk damit für sie gewinnen zu können — oder zumindest die Erlaubnis für die vier Menschen einzuholen, bei ihnen zu wohnen. Und als sie schließlich die höchste Stelle der Schlucht erreichten, die Wiese, auf der pTos Knochen gebrochen, seine Schwinge zerrissen und sein Blut vergossen worden waren, hielten sie an und spielten es durch.
pTo hockte sich auf Nafais Kopf und Poto auf Luets. Ihre Füße drückten, leicht, aber fest, gegen die Kiefer der Menschen. Und sie öffneten die Schwingen und schlangen sie um Nafais und Luets Schultern, wie Mäntel, wie Zelte.
»Wie Nester«, sagte Luet.
Nafai nickte. Denn obwohl sie noch nie mit eigenen Augen das Nest eines Engels gesehen hatten, kannten sie die Beschreibungen, die pTo und Poto ihnen gegeben hatten, und sie hatten die Zeichnungen gesehen, die sie angefertigt hatten, und schließlich hatten sie von ihnen geträumt, und als sie aus den Träumen erwachten, waren sie überzeugt gewesen, daß der Hüter der Erde ihnen die Wahrheit gezeigt hatte. Die Nester waren aus feinen Zweigen und Gräsern geflochten und in Wirklichkeit Dächer, die die Äste schützten, auf denen die Frauen und Jungen schliefen, mit den Köpfen nach unten, in die Decken ihrer eigenen Schwingen geschlungen.
Sie wußten, daß die Engel irgendwo auf den Ästen der umgebenden Bäume waren und sie beobachteten. Ihr Urteil über sie fällten.
Issib glitt vor, ohne daß seine Füße den Boden berührten. Huschidh folgte ihm und sagte ihnen leise, wo die Engel waren, und welche nicht besonders stark mit pTo und Poto verbunden zu sein schienen. Das waren natürlich diejenigen, die sie für sich gewinnen mußten, und der in der Luft stehende Issib — ein Trick, zu dem sonst niemand imstande war, nicht mal Nafai mit seinem Mantel — flößte ihnen große Ehrfurcht ein, der sichtbare Gott, der einzige, der fliegen konnte.
»Wo ist Iguo, wenn ihr Gatte zu ihr nach Hause kommt?« rief Issib laut in der Sprache der Engel. Er wußte, daß seine Stimme nur schwer zu verstehen war, da sie so tief war, aber er sprach schnell, in der Hoffnung, daß ihnen allein die Konsonanten genügen würden, den Sinn seiner Worte zu verstehen.
Niemand kam aus dem Wald hervor; aber das war keine Überraschung. Noch nicht.
»Seine Schwinge wurde zerrissen. Aber nun ist kein Riß mehr darin. Glaubt ihr, wir wollten euch Schaden zufügen, wenn wir die Schwinge eines tapferen Forschers heilen können?«
Noch immer trat niemand vor.
»Als der wütende Alte pTo verletzte, dachte er, ihr, das Volk, hättet sein Kind davongetragen. Wir haben damals noch nichts von den dunklen unterirdischen Pfaden der Teufel gewußt.«
Luet hatte davon abgeraten, das Wort der Engel für die Wühler zu benutzen, doch Issib hatte darauf bestanden, in einer Sprache mit ihnen zu sprechen, die sie auch verstanden. »Schließlich nennen Elja und Okja die Engel ja auch Himmelsfleisch, wenn sie mit den Wühlern über sie sprechen, nicht wahr?« hatte Issib dagegen gehalten. Daraufhin hatten alle zugestimmt, daß Teufel ganz bestimmt kein schlimmeres Wort als dieses war.
Issib fuhr damit fort, die unsichtbaren Engel anzusprechen. »Jetzt wissen wir, daß das Volk nicht die Schlucht hinabgekommen ist, um unsere Kinder zu stehlen. Statt dessen haben wir gesehen, daß ein tapferer Mann ungerechtfertigt niedergeschlagen wurde und sein Ander-Ich, der genauso tapfer ist wie der erste, zu ihm gegangen ist, um sich um ihn zu kümmern und ihn zu retten, falls er es kann.«
Endlich zeigten sich ein paar wenige Engel und hüpften auf den vorderen Ästen der Bäume vor, die die Lichtung umgaben. Einige von ihnen standen aufrecht auf den Ästen, andere hingen kopfüber an ihnen hinab. Es war Schwindel erregend, sie zu beobachten, doch Issib fuhr fort. »Nun wissen wir, daß diejenigen, die den tapferen Poto hätten aufhalten können, ihn zu uns ließen kommen. Das sind die Leute, die auf Freundschaft mit uns gehofft haben, mit den Alten, die vom Hüter der Erde nach Hause gebracht worden sind.«