Natürlich wird er zu Sevet gehen. Er wird nach Hause gehen.
Doch in Vas’ Haus war niemand. Sevet war fort. Mit den Frauen weggegangen. O ja, sie gab Unterricht; das war die Zeit, zu der sie die Kinder unterrichtete. Als würde es noch eine Rolle spielen, ob sie lesen konnten oder nicht. Was wollten sie denn lesen? Die neueste Geschichte, die eine Ratte in einem Loch geschrieben hatte? Aber dieser Umstand rettete Sevet im Augenblick das Leben, und so war es doch gar nicht so schlecht, daß sie unterrichtete, oder? Sevet war eine sehr dankbare Liebhaberin. Und sie hatte sich während ihrer Blütezeit einige Fertigkeiten angeeignet, so daß es eine willkommene Abwechslung war, mit ihr zu schlafen, allenthalben im Vergleich zu Doljas Klammern, das so widerwärtig und gierig war, so bedürftig, selbstsüchtig und unbeholfen …
Was nicht heißen sollte, daß Meb etwas dagegen hatte, mit Dol zu schlafen, wann immer sie wollte. Meb war noch jung, und jetzt, da Elemak das Ehebrecher-Gesetz nicht mehr überwachte, schien sich niemand mehr dafür zu interessieren, abgesehen von den Ehebrechern selbst. Das war das Schöne daran, daß Gesetze einem nur von denen aufgezwungen werden, die selbst daran glauben — sie vermuten ganz einfach nicht, daß die Gesetze gebrochen werden, weil ihre unschuldigen kleinen Geister sich einfach nicht vorstellen können, daß sie gebrochen werden.
Falls Vas Sevet nicht finden konnte, und falls er von Meb nichts wußte, würde er auf jeden Fall Elemak suchen. Das hieß, er war auf dem Weg zum Schiff, in dem Elemak mit der Geisel arbeitete.
Auf dem Weg dorthin kam Meb jedoch an Obrings Haus vorbei und sah, daß die Tür offenstand, obwohl Obring lange schlafen würde, nachdem er in der vergangenen Nacht Wache gehalten hatte, und … war es möglich? Hegte Vas so viele Jahre nach der Tat noch Groll gegen Obring? Oder bildete Vas sich ein, daß Sevet nach diesem häßlichen Abend, an dem Kokor sie überrascht hatte, noch einmal mit Obring geschlafen hatte? Oder war es einfach so, daß der neue Ehebruch seiner Frau die Erinnerung an den alten aufgefrischt hatte?
Selbst wenn Obring friedlich wie ein Baby schlief, wollte er den Spaß bestimmt nicht verpassen, und Meb hatte nichts dagegen, auf Nummer Sicher zu gehen und einen weiteren Mann mitzunehmen, selbst wenn dieser Mann Obring und daher unzuverlässig und feige war. Ich bin selbst unzuverlässig und feige; also kann ich ihm das wohl schlecht vorwerfen.
Meb trat in das Haus. Obring lag auf seinem Bett, die Augen weit geöffnet, die Hände über der Wunde in seiner Brust gespreizt, obwohl es zweifelhaft war, daß es sich dabei um die Todesursache handelte. Der tiefe Schnitt über seine Kehle hatte ihn zweifellos erledigt. Sehr ordentlich ausgeführt. Die Verletzung in der Brust konnte von einer Spitzhacke oder Axt stammen. Eindeutig keine normale Hacke. Aber aufgrund der Halsverletzung erkannte man zweifelsfrei, daß es eine Waffe mit einer Klinge war. Eine Sichel. Nein. Eine Axt. Scharf genug, um die Kehle durchzuschneiden, aber auch stark genug, um sich in die Brust zu graben. Armer Obring. Armer Meb, falls Vas es auch auf mich abgesehen haben sollte. Eine Axt gegen einen Holzhammer? Vielleicht warte ich doch lieber, was Vater entscheidet. Soll Nafai doch mit seinem magischen Mantel kommen und dem armen Vas einen Schlag versetzen.
Was, in aller Welt, würden sie mit einem Mörder tun?
Meb hörte irgendwo ein lautes Gespräch, in der Nähe von Volemaks Haus, ignorierte es jedoch und lief schnell zum Schiff. Vas hat es eilig, und Elemak wartet. Auf welchem Deck hat er die Wühler eingesperrt? Ich hätte besser aufpassen sollen. Elemak kann von Glück reden, wenn ich noch rechtzeitig komme, um sein Leben zu retten. Und wenn nicht, kann ich Vas vielleicht noch in einen kleinen Hinterhalt locken. Sollte der Mörder erfreulicherweise ebenfalls umgekommen sein, wäre Vaters Problem gelöst.
Elemak und Fusum führten ein Streitgespräch und warfen sich Argumente um die Ohren. Elemak benutzte die Wühlersprache; Fusum mühte sich, so gut er konnte, mit menschlichen Worten ab. Das gehörte zu der Vereinbarung, die sie geschlossen hatten. Fusum würde Elemak die feinsten Sprachnuancen beibringen, wenn er irgendwann dafür verstehen würde, was die Menschen sagten. »Wenn ihr keine Götter seid«, meinte Fusum, »ist eure Sprache auch nicht heilig, und es wäre keine Sünde für mich, sie zu erlernen, nicht wahr?« Dem konnte Elemak nur zustimmen.
Fusum war im Erlernen von Sprachen jedoch keineswegs so geübt wie Elemak; er war den ganzen Morgen wütend und verdrossen, weil Elemak beredt komplizierte Sätze herunterrasselte, während er nur die rudimentärsten Antworten stammeln konnte. Dann und wann fiel er in seine Muttersprache zurück und setzte zu einem Redefluß an, nur um angesichts von Elemaks überlegenem Lächeln wieder zu verstummen und sich erneut mit der menschlichen Sprache abzumühen. Diese Geräusche, die sie von sich gaben — die Hälfte davon klangen wie die des Himmelsfleisches. Wie die von Tieren. Das sagte Fusum jedenfalls, wann immer er aufgab und kurze Zeit wütend vor sich hinmurmelte.
Elemak genoß es geradezu.
Bis zu dem Augenblick, da Vas auf der Schwelle auftauchte, eine blutgetränkte Axt in der Hand. Das gehörte nicht zu Elemaks Plänen für diesen Tag. »Was hast du mit dieser Axt gemacht?« fragte Elemak. Der elende Mistkerl hatte doch nicht etwa Sevet getötet, oder? Sie unterrichtete gerade — er würde es doch wohl kaum vor allen Kindern tun, oder? Und wer hatte es ihm gesagt? Warum hatten sie es ihm nach all diesen Monaten ausgerechnet jetzt gesagt?
»Ich hatte sowieso vor, dich umzubringen«, sagte Vas. »Weil du mich vor all diesen Jahren daran gehindert hast, Obring und Sevet zu töten. Ich habe nie vergessen, wie du mich erniedrigt hast, Elemak. Aber das … mit Sevet zu schlafen. Warum konntest du nicht einfach eine der Wühlerfrauen ficken, wenn Eiadh dich nicht mehr in ihr Bett läßt? Das ist doch dein Stil, nicht wahr, Elemak? Mit hilflosen kleinen barbarischen Tieren zu vögeln?«
»Ich nehme nicht an«, sagte Elemak in der Wühlersprache zu Fusum, »daß du mir irgendwie helfen könntest, oder?«
»Sprich so, daß ich dich verstehe!« verlangte Vas.
»Was denn? Warst du kein braver Junge und hast die Wühlersprache gelernt?«
Mittlerweile hatte Fusum herausbekommen, wie er Elemaks Bitte in der Menschensprache beantworten konnte. »Ich würde gern helfen, aber der verrückte Mensch hat die Axt.«
Vas betrachtete ihn kalt. »Eine sehr kluge Entscheidung, Rattenjunge«, sagte er. »Mir ist es egal, ob auch dein Gehirn hier auf dem Boden liegen wird oder nicht.«
»Er wird dich auf jeden Fall umbringen«, sagte Elemak — erneut in der Wühlersprache —, »nachdem er mich umgebracht hat, und dann behaupten, du hättest mich mit der Axt getötet, und dann hätte er mit dir gekämpft, sie dir abgenommen und dich damit getötet.«