»Bist du nicht der Ansicht, daß wir Frieden zwischen ihnen stiften können?«
»Ich glaube nicht mal, daß es uns gelingen wird, unter uns Frieden zu halten«, sagte Nafai. »Und wir haben schon zwei Todesfälle, die meine Befürchtung bestätigen.«
»Ist es sehr schlimm«, fragte Huschidh, »wenn ich zugebe, daß ich Obring kaum vermissen werde?«
»Es hätte mich mehr überrascht, wenn du anderer Ansicht wärest«, sagte Nafai. »Aber ich glaube, Vas hat versucht, ein guter Mensch zu sein.«
Ojkib runzelte die Stirn. »Hätte er es wirklich versucht, wäre es ihm auch gelungen, Nafai. Die Leute sind, was sie sein wollen.«
»Was für eine unbarmherzige Sichtweise«, sagte Huschidh. »Wie du sprichst, könnte man meinen, du wärest der Ansicht, die Menschen wären für ihr Verhalten selbst verantwortlich.«
»Sind sie es denn nicht?« fragte Ojkib.
»Hast du noch nie einen Dreijährigen gesehen, der einen dummen Fehler gemacht hat? Er schaut irgendein Kind oder einen Erwachsenen an, der in seiner Nähe ist, und schreit ihn an: ›Jetzt sieh nur, wozu du mich gebracht hast!‹ Das ist das moralische Universum, in dem Vas und Obring stets gelebt haben — und auch Sevet und Kokor.«
Bei der Beerdigung achtete Kokor verstohlen auf Sevet und tat es ihr Träne um Träne, Seufzer um Seufzer gleich. Diese alte Hure wird aus der Witwenschaft keine größeren Vorteile ziehen als ich, dachte Kokor. Schließlich hat ihr Gatte den meinen umgebracht. Sie hat ihn dazu getrieben, ja, genau, weil sie so ungeschickt war, daß man ihr auf die Schliche gekommen ist. Ich habe schon vor der Reise zur Erde mit Elemak geschlafen, und keiner hat es je erfahren. Sevet wird bei ihren kleinen Affären eben ständig erwischt. Vielleicht will sie das ja sogar. Vielleicht verschafft es ihr den nötigen Nervenkitzel, wenn sie beobachten kann, wie die Leute ihrer Taten wegen — und wegen denjenigen, die sie gemeinsam mit ihr begangen haben — verzweifeln oder Wutanfälle kriegen.
Bei mir hat das ja hervorragend geklappt, damals in Basilika. Mich hat sie ganz bestimmt wütend gemacht, o ja! Und dann spielte sie jahrelang das Opfer, hat nie wieder gesungen, obwohl ihre Stimme schon im ersten Jahr völlig wiederhergestellt war. Sie hat stets ihr musikalisches Schweigen bewahrt, auch wenn Mutter sie angesehen hat und sich daran erinnerte, wie sie einst ›Sogliadatais Liebestraum‹ oder ›Tod des vergifteten Sperlings‹ sang.
Die Scheiterhaufen waren bereits angezündet, und die Engel, die um sie herumstanden, gaben fürchterliche, jammernde Geräusche von sich. Häßliche kleine Geschöpfe. Was wußten sie schon von Trauer?
Aber ihr Gesang — falls man es so nennen konnte — brachte Kokor auf eine Idee, und die führte sie sofort aus. Der ›Tod des vergifteten Sperlings‹ war Sevets Erkennungslied gewesen, und es würde wunderbar zu dieser Gelegenheit passen, auch wenn es dabei nicht um eine Beerdigung ging, sondern um das Ende einer wunderschönen, aber unmöglichen Liebe. Und eins der besten Arrangements des Liedes war ein Duett zwischen Sevet und einer Flöte gewesen. Kokor hatte es sich immer wieder angehört, hatte das Lied unbedingt singen wollen, es öffentlich aber nicht gewagt, weil sie befürchtete, damit den Anschein erwecken zu können, sie beneide ihre Schwester und wolle mit ihr konkurrieren. Doch sie kannte jede Note davon. Und nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte, wurde ihr klar, daß sie sich auch an jede Note des Flötenparts erinnerte.
Also fing sie an, diesen Flötenpart wortlos zu singen; sie hob die Stimme und hielt damit die Melodie der Flöte. Sie konnte natürlich nicht so hoch singen, wie die Flöte spielte; andererseits konnte Sevet auch nicht mehr so hoch singen wie damals, als junges Mädchen, besonders nicht ohne Übung. Nachdem Kokor zu singen angefangen hatte, wagte sie es nicht einmal, einen verstohlenen Blick auf Sevet zu werfen; sonst hätte es so ausgesehen, als wolle sie Sevet zu irgend etwas veranlassen, statt einfach nur das Leid zum Ausdruck zu bringen, das sie verspürte, als sie den Leichnam ihres Gatten in Flammen aufgehen sah.
Sie sang den gesamten Flötenpart, und Sevet fiel nicht ein. Doch Kokor erkannte daran, wie still die anderen waren — selbst die Engel waren verstummt, um ihr zu lauschen —, daß sie sich diesmal für das Richtige entschieden hatte, denn die anderen billigten ihr Vorgehen nicht nur, sondern nickten sogar anerkennend. Und als sie dann mit dem Flötenpart von vorn anfing, erklang endlich Sevets Stimme und sang die Melodie. Nun ergaben die seltsamen Klänge, die Kokor gesungen hatte, endlich einen Sinn als Harmonie zu Sevets Stimme, und die Worte, die Sevet sang, trieben den Leuten Tränen in die Augen, was der Tod so wertloser Männer wie Obring und Vas niemals vollbracht hätte. Die Menschen weinten, wenn Kokor das Lied im Theater sang und niemand gestorben war — wie konnten sie da anders, als sich hier die kleinen Herzen aus der Brust zu schluchzen, während der Geruch des verbrennenden Fleisches in ihren Nasen war und Obrings und Vas’ kleinste Kinder sich die Augen ausheulten, weil ihre Väter so wertlose, mörderische, herumhurende Wühlerärsche gewesen waren. Kokor gefiel es, wie ihre Stimmen sich ergänzten. Denn Sevets Stimme hatte sich verändert, war älter und reifer geworden, aber Kokors nicht; sie hatte die flötenähnliche Schlichtheit und Reinheit der Jugend bewahrt. Kokor mußte nicht mehr versuchen, wie Sevet zu klingen, und Sevet mußte die Ähnlichkeit ihrer Stimmen nicht mehr verabscheuen. Sie klangen jetzt ganz verschieden, gemeinsam aber trotzdem wunderschön.
Als sie das Lied beendet hatten, war offensichtlich, was sie nun tun mußten, und Sevet enttäuschte die Erwartungen nicht. Beide streckten gleichzeitig die Arme aus und umarmten sich weinend und schluchzend. Kokor genoß es geradezu, das kollektive Seufzen der Versammelten zu hören. Die beiden Schwestern, endlich wieder versöhnt! Sie stellte sich vor, wie Mutter Volemaks Hand ergriff und drückte, und wie Volemak ihr dann zuflüsterte: Könnten meine Söhne doch nur Frieden schließen, wie deine Töchter es gerade getan haben.
Während sie sich in ihrer Umarmung der Trauer und Vergebung aneinanderdrückten, flüsterte Sevet etwas in Kokors Ohr. »Jetzt werde ich Elemaks Geliebte sein, kleine Schwester, und komme mir ja nicht in die Quere.«
Woraufhin Kokor flüsternd antwortete: »Ich ebenfalls. Sein Schwanz reicht doch für uns beide, meinst du nicht auch?«
»Wir wollen ihn uns gerecht teilen?« murmelte Sevet.
»Ich wette, ich gebäre ihm ein Kind, bevor du es schaffst«, flüsterte Kokor. Natürlich hatte sie nicht die geringste Absicht, ihm überhaupt ein Kind zu gebären; aber es wäre doch wunderschön, wenn Sevet das täte und ihren dicken Körper damit noch schlimmer ruinierte, als sie es durch die Geburt ihrer drei Kinder ohnehin schon getan hatte. Soll das arme Miststück doch glauben, wir würden uns darum streiten, Elemaks Bastarde zu gebären — ich lasse sie einfach ›gewinnen‹ und heimse den wirklichen Sieg ein, der darin besteht, daß ich meinen jugendlichen Körper behalte, obwohl Obring mir fünf Kinder gezeugt hat. Falls alle fünf wirklich von ihm sind.
Sie lösten sich voneinander und traten ein Stück zurück. »Oh, Kokor«, sagte Sevet. »Meine Schwester.« Dann brach sie wieder in Tränen aus.
Verdammt. Das war kaum zu übertreffen.
Kokor streckte die Hand aus, wischte eine Träne von Sevets Wange und hob dann die Fingerspitze mit dem funkelnden Tropfen darauf hoch. »Wegen mir wirst du nie wieder eine Träne vergießen müssen, meine geliebte Sevja.«
Das Seufzen der anderen war mehr als genug Applaus für Kokor. Ich habe schon wieder gewonnen, Sevet. Du bist mir einfach nicht gewachsen.
Fusum lernte aus Obrings und Vas’ Tod zweierlei.
Zum einen lernte er, daß die Menschen tatsächlich sterblich waren und getötet werden konnten, wenn man die geeignete Waffe auf die richtige Art und Weise und mit genug Kraft benutzte. Er hatte nicht die Absicht, diese Information in nächster Zukunft zu verwenden, wollte aber in den kommenden Monaten und Jahren ausführlich darüber nachdenken.