Zum anderen lernte er, daß das Töten eine drastische Maßnahme war, die man nicht verschwenden durfte, sondern wohldosiert einsetzen mußte. Man mußte die richtige Person töten, und zur richtigen Zeit, und immer, um damit ein wichtiges Vorhaben durchzusetzen. Deshalb legte Fusum, als er schließlich rehabilitiert wurde und zu seinem Volk zurückkehrte, größten Wert darauf, Freund und Gefährte von Nen zu werden. Als ältester und begabtester Sohn von Emeezem und Mufruzhuuzh, der tiefen Mutter und des Kriegskönigs, war Nen die strahlende, goldene Hoffnung der nächsten Generation. Er sprach die Menschensprache fast so fließend wie Fusum selbst, was daher kam, daß er oft mit Ojkib zusammen war, und als Emeezem und Mufruzhuuzh Fusums Vater, den Blutkönig Schosseemem, zwangen, gemeinsam mit ihnen die Entführung und den Verzehr der Kinder des Himmelsfleisches zu verbieten, war es Nen, der vortrat und schwungvoll das Knochenpodest wegwischte, auf dem der Unberührte Gott geruht hatte. Und es war Nen, der dann rief: »Auf daß ewige Freundschaft zwischen unserem Volk und dem Himmelsvolk herrsche!« Oh, Fusum hatte an diesem Tag gemeinsam mit allen anderen gejubelt. Und er arbeitete hart, um einen Platz an Nens Seite zu gewinnen, als sein vertrauenswürdigster Freund.
Dann jagten sie eines Tages gemeinsam, trugen den traditionellen Speer mit der Steinspitze in der einen und die knorrige Keule in der anderen Hand. Sie verfolgten ein Pekari durch das Unterholz, waren ihm schon so nah, daß sie es dann und wann grunzen hörten, als Fusum plötzlich seine Chance sah. Auch ein Panther hatte es auf das Pekari abgesehen, doch wie alle wußten, waren Panther nicht sehr wählerisch und nahmen jedes Fleisch als Mahlzeit, das sich ihnen bot. Aber es mußte lebendes Fleisch sein, und als Fusum zuschlug, schlug er nicht hart genug zu, um zu töten — oder hoffte es zumindest. Nen fiel wie ein Stein, richtete sich dann aber fast sofort wieder auf die Ellbogen auf und stöhnte. Fusum mußte nicht mal einen Stein werfen, um die Aufmerksamkeit des Panthers zu erlangen. Das Tier sprang auf Nen und zerfetzte augenblicklich dessen Kehle. Dann griff Fusum an, trieb seinen Speer in die Seite des Panthers, unter die Rippen, und traf augenblicklich dessen Herz. Ich bin wirklich gut darin, dachte Fusum. Dann zog er dem Panther mehrmals die Keule über den Kopf, damit niemand auf die Idee kommen würde, auf der Waffe nach Spuren von Nens Blut, Haar und Geruch zu suchen.
Einige Minuten später torkelte er weinend in die Wühlerstadt, schrie laut seine Trauer über den Tod seines Freundes Nen hinaus und machte sich Vorwürfe, daß er den Goldenen, den Schönen, nicht hatte retten können. »Kein Mann war je ein schlechterer Freund als ich!« rief er. »Ich bitte euch, tötet mich! Ich will mit Nens Tod an meinen Händen nicht mehr leben.« Doch als sie am Schauplatz des Geschehens angelangt waren, sprachen die Männer der Stadt Fusum von jeder Schuld frei, und die Geschichte seiner großen Trauer über den Tod seines geliebten Freundes wurde in der ganzen Stadt verbreitet. So verblieb ein Teil von Nens Ruhm bei Fusum, und viele sahen nun, da Nen tot war, ihn als die Hoffnung der Zukunft an.
14
Worte
Nafai wußte nicht genau, ob der Traum vom Hüter, von der Überseele oder aufgrund der Sorgen kam, die er sich machte. Vielleicht lag es einfach daran, daß sie trotz allen Unterrichts, den sie den Engeln, Wühlern und ihren eigenen Kindern erteilten, ihnen keinen zwingenden Grund nennen konnten, Lesen und Schreiben zu lernen.
Wozu war das gut? Wuchs das Getreide dadurch besser? Blieben die Ziegen des Nachts deshalb in ihren Pferchen? Wehrte es Raubtiere ab? Verhinderte es, daß Kinder krank wurden?
Als er mit Luet darüber sprach, schien sie sich deshalb keine Sorgen zu machen. »Njef, wir erschaffen hier kein zweites Basilika. Das können wir nicht. Der nächsten Generation wird es an so sehr vielen Dingen mangeln. Wir müssen ihnen beibringen, welche Kräuter Infektionen und verschiedene Krankheiten heilen können. Wir müssen ihnen die Grundlagen der Hygiene beibringen, damit sie ihre Wasservorräte nicht verschmutzen. Wir müssen …«
»Wir müssen dafür sorgen, daß sie Menschen bleiben.«
»Nicht das Schreiben macht uns zu Menschen.«
»Ach nein?« fragte Nafai. »Was denn?«
»Die Wühler und Engel sind intelligente Wesen. Sie sind … na ja, keine Menschen, aber Leute. Und sie können nicht lesen und schreiben.«
Auf das, was sie sagte, gab es keine Antwort, und die Art und Weise, wie sie es sagte, machte klar, daß sie dies nicht für ein Problem hielt, über das man nachdenken mußte. Hatten sie ihren eigenen Kindern nicht das Lesen und Schreiben beigebracht? Hatten sie auf der Reise nicht die Vernichtung riskiert, indem sie die Kinder lehrten, wie man Computer benutzte, und sie Millionen Bücher über die Geschichte und das Wissen der Menschheit studieren ließen, obwohl das alles bei der nächsten Generation in Vergessenheit geraten würde?
Und die nächste Generation gab es bereits. In den fünf Jahren seit der Landung hatten sämtliche Angehörige von Chvejas und Ojkibs Generation Familien gegründet. Deren Kinder wuchsen heran. Und würde es für sie überhaupt noch eine Schule geben, wenn sie sechs, sieben oder acht Jahre alt wurden? Nein, sie würden sich daran machen, die Kunst des Überlebens zu erlernen. Seite an Seite mit Wühlern und Engeln bei der Feldarbeit, beim Sammeln in den Wäldern, würden sie Zäune und Mauern errichten, Ähren lesen und Unkraut jäten, pflanzen und ernten, Felle gerben und Leder herstellen, Wolle kardätschen und zu Garn spinnen — wie sollten sie bei all diesen Aktivitäten noch die Zeit finden, etwas zu lesen? Auf dem Schiff hatten sie sich auf ein neues Leben vorbereitet, im voraus gelernt, was sie wissen mußten, um in einer neuen Welt überleben zu können. Nun befanden sie sich auf dieser Welt, und die neue Generation lernte von den Erwachsenen und nicht aus Büchern.
Und das war gut so. Niemandem wurde Schaden zugefügt. Die Dinge, die für das Überleben wichtig waren, brachte man ihnen bei. Was sonst war noch nötig?
Doch Nafai wurde sein Unbehagen darüber nicht los. In den gesamten vierzig Millionen Jahren der Geschichte auf Harmonie hatten die Menschen lesen und schreiben können. Die Sprachen hatten sich mit den Jahrhunderten und Kilometern verändert. Aber es hatte stets Schrift gegeben. Man konnte auf die Vergangenheit zurückgreifen. Aus ihr lernen. Die Schrift ermöglichte es einer Gemeinschaft, ihre Erinnerungen zu bewahren, ohne auf einzelne Mitglieder zurückgreifen zu müssen, die zufällig noch lebten und in dem betreffenden Augenblick dabeigewesen waren.
Wie lange wird es dauern, bis man mich vergißt, mich und Luet und Vater und Mutter und uns alle?
Dann lachte er über seine Eitelkeit, den Menschen die Mühe aufzwingen zu wollen, Lesen und Schreiben zu lernen, damit sie sich daran erinnern konnten, daß er einmal gelebt hatte. In zehn Generationen würde das nicht mehr die geringste Rolle spielen.
Am Anfang des sechsten Jahres hatte er diesen Traum. Er sah einen Mann, der eine gewaltige Nation von Engeln und Menschen führte, während sich auf beiden Seiten eines großen Flusses Bauernhöfe ausdehnten, Kilometer um Kilometer, so weit das Auge sehen konnte. Hier und dort flogen Engel, und Ziegen und Hunde zogen Karren und Schlitten über die Straßen. Schiffe fuhren den Fluß hinauf und hinab, manche mit Wühlern, manche mit Engeln als Besatzung. Und hier und da hielten Wachen in Türmen, die sich hoch über die größten Bäume hoben, den Umkreis unter Beobachtung, damit sich kein Feind unbemerkt nähern konnte.
Der Mann, der diese große Nation führte, war müde und verängstigt. Feinde bedrängten sie von allen Seiten, und innerhalb der Nation drohten Splittergruppen, die Struktur der Gemeinde zu zerreißen. Städte, die einst unabhängig gewesen waren, vergaßen, daß sie zu jener Zeit auch Hunger gelitten hatten. Menschen, deren Vorfahren einst Herrscher gewesen waren, vergaßen, daß diese Vorfahren auch von Feinden getötet worden waren und ihr Volk nur überlebt hatte, weil es unter den Schutz dieser großen Nation getreten war. Menschen, die nach Reichtum gierten, verschafften ihn sich auf jede nur erdenkliche Weise, schmiedeten Ränke und betrogen, schüchterten andere ein und töten manchmal auch, um Rivalen aus dem Weg zu räumen. Es war ein wunderschönes Land; aber der Kampf, dieses Land zu bewahren, schien von Jahr zu Jahr schwerer zu werden, und der Mann verzweifelte.