In seiner Einsamkeit und Furcht ging er in sein kleines Haus und öffnete ein Kästchen, das er in einem Krug mit getrocknetem Getreide versteckt hatte. In dem Kästchen fand er einen dicken Stapel aus Metallplatten, die auf einer Seite mit Metallringen verbunden waren. Nafai wurde klar, daß es sich um ein Buch handelte, denn in das Metall waren Worte geschrieben, und der Mann öffnete es und blätterte die Seiten um.
Ohne zu begreifen, wie dies möglich war, wußte Nafai, was die Worte besagten und was der Mann in seiner Vorstellung sah, als er las. Der Mann las die Geschichte, wie Volemak auf einem Felsen in der Wüste eine Feuersäule gesehen hatte und nach Basilika zurückkehrte, um die Leute zu warnen, daß die Stadt zerstört werden würde. Dann beschrieb das Buch, wie Nafai und seine Brüder in die Stadt zurückgekehrt waren, um den Index zu holen. Der Mann sah, wie Nafai über Gaballufix’ Leiche stand, und nickte. Manchmal mußten die, die etwas um eine Gemeinschaft gaben, bei ihrem Vorgehen akzeptieren, daß eine Einzelperson Schaden nahm. Einem guten Menschen fiel dies niemals leicht, und er vermied es, wenn es sich umgehen ließ; aber wenn er zum Nutzen des Volkes hart sein mußte, war er hart und schreckte nicht davor zurück. Er tat, was getan werden mußte, mit eigenen Händen, und verschwieg es nicht.
Das hat er von mir gelernt, dachte Nafai, und dann wurde ihm klar, daß er dieses Buch hergestellt und die Geschichte seines Lebens darin aufgeschrieben hatte, des Lebens und der Handlungen aller Menschen in dieser Gemeinschaft, ihrer bösen und heldenhaften Taten, ihrer Zeiten der Zweifel und ihrer erstaunlichen Leistungen. Und dieser Mann, dieser Anführer, dieser König, er schaute in das Buch und fand Geschichten darin, Geschichten, die ihm verdeutlichten, was er tun mußte, und Weisheit, die seine Entschlossenheit stärkte, und Liebe, die ihn Mitgefühl lehrte, und Hoffnung, die zu edlen Taten führte, selbst wenn sie sich dann doch nicht erfüllte.
Nafai erwachte und dachte: Dieser Traum war so klar, daß er von der Überseele gekommen sein mußte. Oder vielleicht vom Hüter der Erde.
Und dann dachte er: Dieser Traum entspricht so genau meinem Wunsch, das Lesen und Schreiben unter diesem Volk zu bewahren, daß er genausogut meiner eigenen Sehnsucht entsprungen sein könnte.
Aber andererseits — woher kam seine Sehnsucht? Warum wollte er unbedingt, daß die geschriebene Sprache bei seinen Nachkommen erhalten blieb? Konnte ihm dieser Wunsch nicht vom Hüter eingegeben worden sein?
Nein, dachte er. Dieses Verlangen stammt aus meiner Erinnerung, über Gaballufix’ Leiche zu stehen. Ich habe ihn getötet, um ihm den Index abnehmen zu können. Und wozu diente der Index? Er war mein Zugang — unser Zugang — zu dem gewaltigen Schatz an Wissen an Bord des Raumschiffs, das uns hierher gebracht hat. Der Index ist der Schlüssel zu allem, was die Überseele weiß. Was für Folgen hätte es gehabt, wenn keiner von uns hätte lesen und schreiben können? Für ein ungebildetes Volk wäre der Index wertlos, und daher hätte niemand sterben sollen, damit Nafai ihn bekam. Ich träume den Traum, der mir gegenüber meine Handlungsweise rechtfertigt.
Doch während er den Traum noch als unbedeutend abtat, wußte er, daß er seine Weisungen befolgen würde.
Ohne ein Wort der Erklärung verabschiedete er sich von Volemak und Luet und flog mit dem Beiboot des Schiffes zu einem Ort, von dem die Vermessungskarten zeigten, daß man dort Gold finden konnte. Es war eine reiche Ader, die durch die großen Auffaltungen und Umwälzungen, die in den letzten vierzig Millionen Jahren stattgefunden hatten, an die Oberfläche getreten war. Nafai war mit den Metallwerkzeugen aus dem Lagerraum des Schiffes ausgestattet, und in zwei Tagen einsiedlerischer Arbeit schürfte er mehrere Pfund massiven Goldes aus der freiliegenden Ader im Berghang. Einen Tag verbrachte er damit, es zu veredeln. Dann goß er es unlegiert zu flachen, glatten Platten, wobei er die unzerstörbare Metalloberfläche des Beibootes als Amboß benutzte. Das Metall war sehr dünn, aber aufeinandergelegt auch sehr schwer. Er brauchte drei Tage, um die Goldplatten herzustellen, und während dieser Zeit machte er nur gelegentliche Pausen, um Nahrung zu sammeln, die er ohne Schwierigkeiten in der Umgebung fand. Er war hungrig; aber die Arbeit, die er tat, war ihm wichtiger als das Essen.
Er fand bei seinen ersten Experimenten heraus, daß man die geschwungenen Linien des Alphabets, das seit so vielen Jahrtausenden auf Harmonie gebräuchlich war, einfach nicht mit der Hand in das Gold schreiben konnte. Er mußte für die Buchstaben eckigere Formen finden, gleichzeitig aber dafür sorgen, daß man sie auseinanderhalten konnte. Und die Rechtschreibung war zu kompliziert, und es waren zu viele Buchstaben erforderlich, um die Laute auszudrücken. Also veränderte er sie und erfand fünf neue Buchstaben, die für Laute standen, die vorher jeweils zwei Buchstaben erfordert hatten. Das Ergebnis bestand eindeutig in einer Verdichtung der geschriebenen Sprache, und während er den Text verfaßte, verdichtete er sie noch mehr, indem er nur ein paar Buchstaben benutzte, die für die gebräuchlichsten Wörter standen.
Wie kann ich es wagen, die Sprache dermaßen zu verändern? fragte er sich. Wer konnte sie jetzt noch verstehen?
Offensichtlich konnte diese Sprache nur von jenen problemlos gelesen werden, die man lehrte, sie zu schreiben und zu sprechen, und die daher wissen würden, was die Symbole bedeuteten. Doch vielleicht genauso wichtig war, daß jeder, der gelernt hatte, die Schrift zu lesen, in der die Buchstaben gehalten waren, die er ins Gold drückte, auch den Großteil der Buchstaben entschlüsseln konnte, aus denen die Sprache von Harmonie bestand — die Sprache der Computerbibliothek des Schiffes. Zumindest, bis die Sprache sich veränderte, konnten seine Nachkommen also ihr literarisches Erbe bewahren, falls sie es tatsächlich einmal wiederentdecken sollten.
Gold. Wie passend für einen solchen Schatz, wie dieses Buch einst einer sein würde. Zumindest hoffte er das. Doch er benutzte es nicht wegen des Wertes von Gold als Tauschmittel, sondern aus denselben Gründen, aus denen Gold während des Großteils der menschlichen Geschichte beim Prägen von Münzen Verwendung gefunden hatte. Es war weich. Es konnte geformt werden. Doch es war nicht so weich, daß es seine Form nicht bewahren konnte. Und es korrodierte und zerfiel nicht, es lief nicht an und verdarb nicht. Wenn Nafai schon längst tot war, würde es diese Buchstaben auf den Seiten seines Metallbuches noch immer geben.
Er legte die goldenen Seiten und das übriggebliebene Gold ins Beiboot und flog nach Hause. Nachdem er das Beiboot im Schiff abgestellt hatte, erklärte er nicht, wo er gewesen war oder was er getan hatte. Er wollte niemanden täuschen. Und es war nicht so, daß er kein Vertrauen in Vater oder Mutter, Luet oder die anderen gehabt hätte. Es war ihm lediglich unangenehm, darüber zu sprechen. Sie würden sein Vorgehen für albern halten.
Nein, das war es nicht. Daran lag es keineswegs, und das wußte er auch. Als er dort im Licht der Lampe saß und arbeitete und der Docht flackerte, während er im Tongefäß auf dem geschmolzenen Fett schwamm, fühlte er die Macht dessen, was er tat. Ich stelle mich selbst und meine Sicht der Dinge, die uns widerfahren sind, für die Zukunft dar. Eines Tages wird die Version der Ereignisse, die ich geschrieben habe, die einzige sein, die man noch kennt. Unsere Nachfahren werden uns durch meine Augen und keine anderen sehen. So werde ich in ihren Erinnerungen weiterleben. Ich werde es sein, der in das Ohr dieses großen Herrschers flüstert — falls es ihn jemals geben wird, falls dieses Buch erhalten bleibt, falls wirklich Weisheit in ihm ist.