Das Verfassen dieser goldenen Seiten wird mich unsterblich machen. Wenn alle anderen tot sind, werde ich noch leben und leuchten. Deshalb halte ich es geheim. Deshalb behalte ich es für mich. Es ist herzlos und egoistisch von mir.
›Nein, das ist es nicht.‹
Ich kenne mich doch. Ich schäme mich nicht einzugestehen, daß meine Motive unrein sind.
›Du tust etwas sehr Großzügiges. Du gibst den Nachkommen, die du in zehn oder zwanzig Generationen haben wirst, Kenntnisse über ihre Vergangenheit. Kenntnis darüber, warum Menschen und Wühler und Engel an diesem Ort in Frieden zusammenleben.‹
Was wäre, wenn Elemak dieses Buch geschrieben hätte? Es wäre doch ein ganz anderes Buch geworden, nicht wahr?
›Es wäre ein Buch voller Lügen.‹
Ein Geschichtenerzähler verzerrt zwangsläufig jede Geschichte, die er erzählt. Ohne es zu wissen, lüge auch ich, indem ich den Ereignissen die Gestalt verleihe, die für mich Sinn ergibt. Alle anderen würden sie anders beschreiben. Mein Weg ist nicht unbedingt der beste.
›Was du erschaffst, wird man als heiligen Gegenstand betrachten. Als Symbol der Autorität, das man von Generation zu Generation weitergibt. Wie den Index. Er hat vierzig Millionen Jahre überdauert.‹
Nafai lachte innerlich, darauf bedacht, Luet und ihre drei jüngsten Kinder nicht zu wecken, die geboren worden waren, nachdem sie in die Schlucht gezogen waren, um bei den Engeln zu wohnen, oder die Zwillinge, die auf dem Dachboden schliefen und von neuen Streichen träumten, die sie spielen konnten, oder von Unfällen, die sie erleiden konnten, um ihre Eltern immer wieder in Angst und Schrecken zu versetzen.
›Du lachst, aber du weißt, daß ich dir die Wahrheit sage.‹
Also, Überseele, mein lieber alter Freund, hast du mir diesen Traum geschickt?
›Nein.‹
Dann also der Hüter?
›Du weißt, daß ich nicht weiß, was der Hüter tut oder nicht tut.‹
Also könnte es einfach die ureigene Phantasievorstellung eines Mannes im mittleren Alter sein, der spürt, daß der Tod ihm in den Nacken bläst?
›Und wenn es das wäre … ändert es etwas daran, daß es eine kluge Entscheidung ist? Ein großes Geschenk für die Zukunft?‹
Ich muß jemandem beibringen, meinen Text zu lesen. Ich muß jemanden finden, der ihn in die Zukunft weitergeben wird.
›Du wirst jemanden finden. Vielleicht einen, der heute noch ein Kind ist. Sobald die Zeit kommt, wirst du wissen, wer das Buch bekommen soll.‹
Ich werde es allen sagen. Wenn meine Kinder das lesen, werden sie sagen: Warum hat er nicht einfach die Klappe gehalten? Warum hat er die Sache nicht auf sich beruhen lassen? Meine Fehler werden für jeden ersichtlich sein, und sie werden mich herabwürdigen.
›Und wenn schon. Du wirst tot sein.‹
Und wenn Elemak dies liest, wird er mich töten und das Buch vernichten. Das weißt du.
›Ich würde vorschlagen, daß du es ihm nicht zeigst.‹
Oder irgendeinem anderen. Die Stunden, die ich damit verbracht habe — sind sie verschwendet?
›Was meinst du?‹
Nafai hatte keine Antwort darauf. Aber er arbeitete weiter. Er schrieb und schrieb, und seine Schrift wurde immer winziger und kompakter, damit er mehr Worte auf die Seiten bekam. Er hielt seine Geschichte immer knapper.
Was schrieb er? Zuerst war es eine sehr persönliche Geschichte, ein Bericht über ihr Leben in Basilika, so gut er sich daran erinnerte, über die Reise durch die Wüste und die Entdeckung des Raumhafens in Vusadka. Doch als er schließlich über die Erde schrieb, wurde die Geschichte viel allgemeiner. Die Dinge, die sie über die Wühler und Engel erfahren hatten, schilderte er in der Reihenfolge, wie sie sie herausgefunden oder sich zusammengereimt hatten. Die Ergebnisse von Zdorabs Reisen im Beiboot des Schiffes, bei denen er das Gelände vermessen und Proben des pflanzlichen und tierischen Lebens gesammelt hatte, damit Schedemei sie studieren konnte. Die Kultur der Engel und Wühler, und wie sie auf die kulturellen Innovationen reagierten, die die Menschen ihnen brachten. Die politischen Ränke, während die Gemeinschaften der Wühler und Engel versuchten, mit der Zerstörung ihrer Götter und der Zertrümmerung ihres gesellschaftlichen Gleichgewichts fertigzuwerden.
Denn die alten Götter wurden tatsächlich zerstört. Man kann wohl nicht mit Göttern leben und noch immer an sie glauben, dachte Nafai. Und nachdem Nafai ihnen allen nach der anfänglichen Krise erklärt hatte, daß er und Volemak niemals Götter gewesen waren, daß ihre Macht auf Technik und Wissen beruhte, daß keiner von ihnen imstande war, auch nur eine der komplizierten Maschinen im Raumschiff nachzubauen — obwohl er das alles erklärte, merkte er, daß viele ihm dieses Wissen geradezu übelnahmen. Emeezem bekam am meisten davon mit. Als er ihr sagte, die Tonfigur, die sie fast ihr ganzes Leben lang verehrt und geschätzt hatte, sei nur eine bemerkenswert schöne Skulptur eines talentierten Engels namens Kiti, soweit er wisse, dankte sie ihm nicht. Sie benahm sich, als hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben. »Und? Soll ich die Statue jetzt zerbrechen?« fragte sie verbittert.
»Willst du einen so schönen Gegenstand wie diesen zerbrechen?« erwiderte Nafai. »Willst du etwas zerstörten, das dazu beigetragen hat, daß du zu der edlen Herrscherin wurdest, die du nun bist?«
Aber sie ließ sich durch das Lob nicht besänftigen; obwohl es der Wahrheit entsprach und aufrichtig gemeint war, klang es in ihren Ohren wie Schmeichelei. Nafais Zurückweisung ihrer Verehrung war ein grausamer Schlag. Er sah, wie sie geradezu verwelkte; obwohl sie ihr Volk weiterhin mit Klugheit und fester Hand führte, war sie nicht mehr mit dem Herzen dabei. Sie hatte nicht nur den Glauben, sondern auch die Hoffnung verloren.
Die Engel hatten es einfacher. Da das erste, was sie von den Menschen gesehen hatten, Elemaks Wut gewesen war, nahmen sie mit Erleichterung zur Kenntnis, daß es sich bei ihnen nicht um Götter handelte. Aber die Menschen kannten so viele Geheimnisse, und ihre Weisheit, die sie den Engeln zur Verfügung stellten, rettete so viele Leben und verbesserten die Gesundheit aller, daß in ihrer Beziehung noch ein Element der Verehrung blieb, und daher kam bei ihnen ein bißchen — oder sogar sehr viel — Enttäuschung und Ernüchterung auf, wenn ein beliebiger Mensch einer Aufgabe nicht gewachsen war, einen schlechten Ratschlag gab oder etwas vorhersagte, das dann doch nicht so eintraf.
Während Nafai über das alles schrieb, wurde ihm klar, daß die Leute — sowohl Wühler, Engel als auch Menschen — einen Außenstehenden brauchten, auf den sie ihre Hoffnung auf Weisheit und Rechtschaffenheit richten konnten. Sie mußten damit anfangen, den Hüter der Erde für den einzigen zu halten, der sich niemals irren konnte.
Allerdings war Nafai sich dabei selbst nicht ganz sicher. Er hörte die Stimme des Hüters nie mit der Deutlichkeit, mit der die Überseele zu ihm sprach. In Wirklichkeit wußte er nie ganz genau, ob er die Stimme des Hüters der Erde überhaupt gehört oder seine Träume gesehen hatte. Und er wußte nicht, was der Hüter war. Daß es ihn gab, war offensichtlich — es gab keine andere Erklärung für die Statue, deren Gesicht genau wie das Nafais aussah und die entstanden war, als Nafai gerade das Sternenschiff betreten hatte, um zur Erde zu fliegen. Und es gab keine andere Erklärung für die Träume, die sie auf Harmonie gehabt und in denen so viele von ihnen Wühler und Engel gesehen hatten, als die Überseele selbst noch gar nicht wußte, daß diese Geschöpfe nun die Erde bevölkerten. Doch die Träume waren immer vieldeutig und von den Hoffnungen und Ängsten und Erinnerungen des Träumenden selbst gefärbt, so daß nie feststand, wo die Nachricht des Hüters endete und die Selbsttäuschung begann.