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Doch so unzulänglich Nafais Verständnis vom Hüter der Erde auch sein mochte, wußte er doch, daß der Glaube an den Hüter eine wichtige soziale Funktion erfüllte. Der Hüter würde die höchste Autorität sein, derjenige, der sich niemals irrte, die Quelle der Wahrheit. Wenn offensichtlich wurde, daß selbst der klügste der Menschen in Wirklichkeit nur sehr wenig wußte; wenn offensichtlich wurde, daß selbst das wunderbarste aller Wunder in Wirklichkeit die Folge der Arbeit einer Maschine oder des Einsatzes allgemein bekannten Wissens war, dann würde es trotzdem keine Ernüchterung geben, weil schließlich alle wußten, daß in den Augen des Hüters der Erde Menschen, Engel und Wühler gleich waren und im Vergleich zu ihm gleichermaßen unwissend, schwach und dumm.

Nafai erklärte diese Gedanken Luet, und sie stimmte ihm zu. Sie erzählte den Engelfrauen nun vom Hüter der Erde und baute ihre uralten Überlieferungen über die verschiedenen Götter zu einer zusammenhängenden Geschichte um, in der die guten Götter durch verschiedene Aspekte des Hüters ersetzt wurden. Bei den Engelmännern ging Nafai etwas brutaler vor, fegte alle alten Götter beiseite und bewahrte nur einige ihrer uralten Legenden. Die alten Legenden würden natürlich nicht sterben — aber er wollte, daß sie mit einem reinen Kern des Wissens über den Hüter anfingen, obwohl dieses Wissen wirklich sehr gering war.

Dann zogen Nafai und Luet Ojkib und Chveja ins Vertrauen, und schon bald unterwiesen Ojkib die Wühlermänner und Chveja die Wühlerfrauen über den Hüter der Erde. Auch sie übernahmen, woran die Leute bereits glaubten; auch sie gestanden aufrichtig ein, wie wenig sie persönlich über den Hüter wußten. Aber eins wußten sie immerhin genau: Der Hüter wollte, daß Menschen, Wühler und Engel in Frieden zusammenlebten.

Die alte Religion verlor immer mehr Anhänger, und immer weniger Wühler nahmen an den jährlichen Beutezügen teil, bei denen sie die Statuen der sich paarenden Engel stahlen. Das Problem dabei war jedoch, daß gleichzeitig die Geburtsrate der Wühler geringer zu werden schien — während die Engel gediehen und ihre Bevölkerung mit fast schon beunruhigender Schnelligkeit wuchs. Unter den Wühlern wurde geflüstert, die neue Religion des Hüters der Erde sei in Wirklichkeit Teil einer Verschwörung mit dem Ziel, die Wühler zu vernichten, damit die Engel und Menschen die Welt unter sich aufteilen konnten. Nicht viele Wühler glaubten an diese Geschichten, aber immerhin so viele, daß Anlaß zur Besorgnis gegeben war. Und es gab natürlich einige, die diese Gerüchte ausnutzten. Als Nafai dann hörte, nicht alle Menschen, sondern nur Nafai und die, die ihm folgten, wollten die Wühler vernichten, wußte er, daß jemand versuchte, diese Gerüchte zu seinem Vorteil zu nutzen.

Doch derweil sank die Geburtsrate der Wühler weiterhin dramatisch, obwohl die Qualität ihrer Nahrung permanent verbessert wurde. Und die Engel mußten ihr Territorium ständig ausdehnen und immer mehr Wald verbrennen, um Land zu kultivieren. All diese Zwillinge, und keiner von ihnen starb während der Kindheit; all diese gesunden Erwachsenen, und keiner von ihnen kam bei den Raubzügen der Wühler ums Leben.

Sie waren seit zwölf Jahren auf der Erde, als Schedemei die erwachsenen Menschen zu einem Treffen zusammenrief. Sie habe die Geheimnisse endlich gelöst, sagte sie. Doch nun gab es einige neue Geheimnisse, und sie mußten einige Entscheidungen treffen.

»Wir haben uns eingemischt«, sagte Schedemei. »Wie ihr alle wißt, führt die sinkende Geburtsrate zu ernster Besorgnis unter den Wühlern.«

»Wir sind auch besorgt«, sagte Volemak.

»Na ja, ich weiß jetzt, wie es dazu gekommen ist. Wir haben es verschuldet. Wir sind dafür verantwortlich.«

Sie warteten. »Ich habe gar nicht gewußt, daß du einen so ausgeprägten Sinn für das Dramatische hast, Schedja«, sagte Mebbekew schließlich. »Wie lange sollen wir warten, bis du uns reinen Wein einschenkst?«

»Das ist erst das Wasser«, sagte sie. »Der Wein kommt später.« Einige lachten nervös. »Das Problem besteht darin, daß wir sie davon abgebracht haben, an ihre Götter zu glauben. Sie verehren sie nicht mehr. Sie stehlen den Engeln nicht mal neue Statuen. Und deshalb bekommen sie keine Kinder mehr.«

»Willst du damit sagen«, fragte Elemak lachend, »daß ihre Religion wahr ist?«

»Mit einem Wort gesagt: ja«, sagte Schedemei. »Wir haben ein Dutzend Jahre die örtlichen Stämme der Wühler und Engel genau beobachtet. Zdorab und ich haben auch einige andere Wühler- und Engelsiedlungen besucht und sind ziemlich sicher, daß wir ein allgemeines Muster entdeckt haben. Zum einen gibt es kein einziges Engeldorf ohne eine Wühlerstadt in der Nähe, und keine einzige Wühlerstadt ohne ein Engeldorf in ein paar Fußstunden Entfernung. Das ist kein Zufall. Die Wühler können ohne die Engel nicht überleben. Genauer gesagt, die Wühler können sich nicht fortpflanzen, ohne die Statuen anzubeten, die die Engel bei ihrem Paarungsritual anfertigen.«

»Habe ich den Eindruck, daß es sich eher um eine biologische als um eine theologische Ursache handelt?«

»Natürlich, obwohl es nicht einfach ist, kleine Tonstatuen zu betrachten und einen biologischen Mechanismus zu sehen«, sagte Schedemei. »Zdorab hat mich als erster darauf hingewiesen, daß die Kunstfertigkeit bei der Schöpfung der Statuen biologisch gesehen gar keine Rolle spielt. Es ist der Speichel. Die Engelmänner nehmen den Ton in den Mund, speicheln ihn ein und stellen einen nassen Schlamm her, aus dem sie dann den Klumpen bilden, der zu der Statue wird. Gelegentlich nehmen sie noch mehr Ton in den Mund und durchnässen ihn. Es fließt reichlich Speichel.«

Die Zuhörer dachten angestrengt darüber nach und versuchten, sich einen Reim auf die Sache zu machen. »Du meinst, die Wühler müssen Engelspeichel auf ihre Körper reiben, um sich paaren zu können?«

»Nicht ganz«, sagte Schedemei. »Als wir die Körper der Engel und Wühler zum erstenmal untersucht haben, fanden wir ein kleines Organ — eigentlich eine Drüse — in der Nähe des Hodensacks. Sie war bei beiden Spezies identisch, obwohl sie keinen gemeinsamen Vorfahren mit einem ähnlichen Organ haben. Das war natürlich sehr verwirrend. Aber wir kennen die Funktion des Organs jetzt. Es sondert ständig winzige Mengen eines Hormons ab, das die Produktion von Sperma unterdrückt. Nein, laßt mich das klarstellen. Es unterbindet die Produktion von Sperma. Wenn das Organ arbeitet, sind die Männer völlig steril.«

»Was für ein nützliches kleines Organ«, murmelte Ojkib. Dann fuhr er lauter fort: »Wieso ist es überhaupt entstanden?«

»Es kommt noch schlimmer«, sagte Zdorab.

»In sämtlichen Süßwasserflüssen dieses Massivs lebt ein winziger Plattwurm von mikroskopischer Größe. Wenn die Flüsse während der Regenzeit anschwellen, gräbt dieser Plattwurm sich in feste Tonschichten ein und legt Millionen winziger Eier. Solange sie naß bleiben, entwickeln sie sich nicht. Doch wenn die Trockenzeit kommt und der Wasserpegel sinkt, verändern sie sich und bilden harte, kleine Überzüge, die die Feuchtigkeit halten, die sie noch besitzen. Die Embryos könnten nun jederzeit ausschlüpfen. Aber das ist ihnen nicht möglich, weil sie ihre Schutzhüllen nicht loswerden. Also halten sie einen Winterschlaf und leben von ihrem Eigelb. Sie verbrauchen nur so wenig davon, daß sie auf diese Weise zwanzig bis dreißig Jahre überleben können. Auch bei der nächsten Regenzeit schlüpfen sie noch nicht aus, denn Wasser löst die Hüllen nicht auf. Und nun ratet mal, was sie auflöst.«

»Der Speichel der Engel«, sagte Ojkib.

»Kluger Junge«, sagte Schedemei. »Mein bester Schüler.« Einige lachten, aber die meisten warteten darauf, daß sie ihren Bericht fortsetzte. »Keine andere Flüssigkeit ist dazu in der Lage, denn die Engel haben winzige Organellen in den speichelproduzierenden Zellen ihrer Münder, die ein Enzym absondern, das innerhalb der Körper der Engel nicht die geringste Funktion hat — aber die Hüllen der Plattwurmeier auflöst. Wenn die Männer den Ton also in den Mund nehmen, weichen sie ihn nicht nur auf, um ihre Statuen herstellen zu können. Sie lösen auch die Hüllen Millionen kleiner Plattwürmer auf. Und zufällig enthalten die aufgelösten Hüllen genau die eine Chemikalie, die die Wirkung der prophylaktischen Drüse über den Hodensäcken der Engel und Wühler aufhebt. Die Fruchtbarkeitschemikalie löst sich sehr langsam auf, und die Statuen enthalten solche Mengen davon, daß sie mindestens für fünf, vielleicht sogar für zehn Jahre reichen.«