Sie hielt inne, und weil er glaubte, sie erwarte eine Antwort, nickte er. Er konnte jedoch nicht erkennen, ob sie sein Nicken bemerkte.
Sie seufzte. »Weißt du, Elfenjunge, ich mag dich. Du bist entschlossen, ja stur, und manchmal siehst du die Dinge und die Menschen um dich herum überhaupt nicht – nur dich selbst. Aber da sind wir uns ähnlich. Vielleicht schaffen wir es dadurch, nicht so zu werden wie alle anderen. Und vielleicht gelingt es uns so zu überleben.« Wieder hielt sie inne und sah ihn an. »Ich habe darüber nachgedacht – wenn ich sterben müßte, möchte ich dir gern etwas von mir hinterlassen, etwas, das nur du hast. Etwas Besonderes.«
Par wollte protestieren, aber sie legte schnell ihre Finger auf seinen Mund. »Bitte laß mich ausreden. Ich will damit nicht sagen, daß ich sterben werde, aber es ist immerhin möglich. Und es könnte doch sein, daß ich dadurch, daß ich dir ein Geheimnis mitteile, davor geschützt werde, wie durch einen Talisman, und daß er alles Übel von mir fernhält. Verstehst du?« Sie nahm ihre Finger weg. »Erinnerst du dich, als ich dir das erstemal von mir erzählt habe, in der Nacht, in der du der Föderation entwischt bist, nachdem ihr alle gefangengenommen worden wart? Ich habe versucht, dich davon zu überzeugen, daß ich euch nicht verraten hatte. Jeder hat dem anderen Dinge von sich selbst erzählt. Du hast mir von deiner Magie erzählt, und wie sie funktioniert. Erinnerst du dich?«
Er nickte. »Du hast mir erzählt, daß du mit acht Jahren deine Eltern verloren hast und daß die Föderation daran schuld war.«
Sie zog die Knie an wie ein Kind. »Ich habe dir erzählt, daß meine Familie in einem Brand umgekommen ist, den die Föderationssucher gelegt haben, nachdem sie entdeckt hatten, daß mein Vater die Bewegung mit Waffen versorgt hat. Ich habe dir erzählt, daß mich ein Zauberer kurz danach als Lehrling bei sich aufgenommen hat und daß ich von ihm das Handwerk gelernt habe.« Sie holte tief Luft. »Was ich dir erzählt habe, entsprach nicht ganz der Wahrheit. Mein Vater ist nicht im Feuer umgekommen. Er konnte fliehen. Mit mir. Und es war mein Vater, der mich aufgezogen hat, nicht meine Tante, nicht ein Zauberer. Ich bin auf der Straße groß geworden und dort habe ich auch das Handwerk gelernt, aber es war mein Vater, der für mich gesorgt hat. Und mein Vater sorgt auch jetzt noch für mich.« Ihre Stimme zitterte. »Mein Vater ist Padishar Creel.«
Mit großen Augen starrte Par sie an. »Padishar Creel ist dein Vater?«
Ihre Augen hielten ihn fest. »Keiner außer dir weiß davon. Es ist sicherer so. Wenn die Föderation erfahren würde, wer ich bin, würde sie versuchen, über mich an ihn heranzukommen. Par, was du in jener Nacht, als ich dir von meiner Kindheit erzählt habe, wissen mußtest, war, daß ich niemals jemand verraten könnte, nachdem meine Familie an die Föderation verraten worden ist. So viel entsprach der Wahrheit. Mein Vater ist deswegen so zornig, weil möglicherweise einer seiner eigenen Männer der Verräter ist. Er kann nicht vergessen, was mit meiner Mutter, meinem Bruder und meiner Schwester geschehen ist. Die Vorstellung, noch einen Menschen, der ihm nahesteht, durch Verrat zu verlieren, bringt ihn beinahe um den Verstand.« Sie betrachtete ihn gespannt. »Ich habe versprochen, niemand zu erzählen, wer ich wirklich bin, aber für dich breche ich dieses Versprechen. Ich möchte, daß du es weißt. Auf diese Weise kann ich dir etwas schenken, das nur dir gehört.«
Dann lächelte sie, und ein Teil seiner Anspannung fiel von ihm ab. »Damson«, sagte er und lächelte, »ich will nicht, daß dir etwas geschieht. Und wenn dir doch etwas geschieht, ist es ganz allein meine Schuld, denn ich habe dich hierher gebracht. Wie könnte ich deinem Vater danach je wieder unter die Augen treten? Ich könnte nicht einmal mehr in seine Nähe kommen!«
Sie drückte sich an ihn. Einen Augenblick blieb er steif sitzen, und seine Augen wanderten in die Richtung, wo Coll saß, ein undeutlicher Schatten am anderen Ende des Ganges. Aber sein Bruder sah nicht zu ihnen her. Von Anfang an waren Freunde und Verräter in dieses Unternehmen verwickelt gewesen, und es war nahezu unmög- lich gewesen, die einen von den anderen zu unterscheiden. Mit Ausnahme von Coll. Und jetzt Damson Rhee. Er legte seine Arme um sie und drückte sie an sich.
Wenige Augenblicke später kehrte der Maulwurf zurück. Er schlich sich so leise an sie heran, daß sie ihn erst bemerkten, als sie von der Tür zur Seite geschoben wurden. Par ließ Damson Rhee los und sprang auf, die Klinge seines langen Messers blitzte auf. Der Maulwurf lugte durch die Tür, um sich ihren Blicken sogleich wieder zu entziehen.
Damson Rhee packte Par am Arm. »Maulwurf!« flüsterte sie. »Es ist alles in Ordnung!«
Das rundliche Gesicht des Maulwurfs kam wieder zum Vorschein. Als er sah, daß Par seine Waffe wieder eingesteckt hatte, schlüpfte er durch die Tür. Coll eilte durch den Gang auf sie zu.
Der Maulwurf sagte: »Niemand ist in der Nähe der Hängebrücke, und wenn wir uns beeilen, können wir ungehindert darübergehen. Aber ihr müßt ganz leise sein.«
Sie schlüpften durch die Tür und befanden sich auf einem Söller, der um eine riesige, leere Rotunde herumführte. Sie bewegten sich mit schnellen Schritten, vorbei an verschlossenen Türen und dunklen Alkoven. Auf halbem Weg führte der Maulwurf sie durch eine Halle ins Freie; von dort spannte sich eine Hängebrücke zu einer riesigen Mauer. Der Hof war einst eine Gartenlandschaft mit unzähligen Wegen gewesen; jetzt bedeckten Steinplatten die kahle Erde. Hinter der Brücke lag die Schlucht.
Der Maulwurf winkte ihnen ängstlich zu. Sie betraten die Hängebrücke, die unter ihrem Gewicht hin- und her- schaukelte. Der Wind fegte in schnellen Stößen über sie hinweg, und sein Heulen, als er über die kahlen Steinmauern und den leeren Hof brauste, glich einem tiefen Wehklagen. Unter ihnen zitterten und wiegten sich die Grashalme. Die Dunkelheit war totenstill und kein Schattenwesen zu sehen.
Die Palastmauer kam immer näher. Als sie das andere Ende der Brücke erreicht hatten, traten sie schnell auf die Mauer, jeder streckte die Hand aus, um dem nächsten zu helfen; alle waren erleichtert.
Der Maulwurf führte sie zu einem Schacht, wo sie auf eine weitere Treppe stießen, die sich in die Finsternis hinunterwand. Während sie mit den Steinen leuchteten, die Damson Rhee ihnen gegeben hatte, stiegen sie in die Tiefe. Sie waren ihrem Ziel jetzt sehr nah; nur die steinerne Mauer trennte sie noch von der Schlucht. Die Aufregung ließ Par das Blut in den Ohren dröhnen und spannte seine Nerven zum Zerreißen an.
Nur noch wenige Minuten…
Unten angekommen, gewahrten sie einen Gang, der an einer verwitterten, eisenbeschlagenen Holztür endete. Der Maulwurf ging auf die Tür zu und blieb vor ihr stehen.
Als er sich zu ihnen umdrehte, wußte Par sofort, was dahinter lag. »Danke dir, Maulwurf«, sagte er.
»Ja, danke dir«, wiederholte Damson Rhee.
Der Maulwurf blinzelte verlegen. Dann sagte er: »Hier könnt ihr durchsehen.« Er faßte nach oben und zog vorsichtig eine winzige Klappe zurück, hinter der sich eine Ritze im Holz verbarg.
Par trat vor und spähte hinaus.
Vor seinen Augen erstreckte sich die Schlucht, eine nebelverhangene Wildnis mit Bäumen und Steinbrocken, ein Tal, das mit Buschwerk bedeckt war, eine Dunkelheit, in der sich Schatten bewegten. Auf der rechten Seite lagen die Überreste der Sendic-Brücke, die vom grauen Nebel fast verschluckt wurden.
Par sah keinen Kuppelbau, in dem sich das Schwert von Shannara befand. Dennoch hatte er ihn wahrgenommen, unmittelbar hinter der Mauer des Palastes. Die Magie des Wunschliedes hatte ihn zum Vorschein gebracht. Er war dort, dessen war er sich sicher. Er fühlte seine Gegenwart gleich der eines lebendigen Wesens.
Er ließ Damson Rhee durchschauen, dann Coll. Als Coll zurücktrat, standen sie einander schweigend gegenüber.
Par schlüpfte aus seinem Mantel. »Wartet hier auf mich. Und gebt acht auf die Schattenwesen.«