»Gib acht auf dich«, sagte Coll barsch, während er seinen eigenen Mantel abwarf. »Ich gehe mit dir.«
»Und ich auch«, sagte Damson Rhee.
Aber Coll versperrte ihr den Weg. »Nein, das tust du nicht. Nur einer kann Par begleiten. Sieh dich doch um, Damson! Siehst du nicht, wo wir sind? Wir sitzen in einer Falle. Aus der Grube führt kein anderer Weg hinaus als durch diese Tür und aus dem Palast nur die Hängebrücke. Der Maulwurf kann die Hängebrücke im Auge behalten, aber er kann nicht gleichzeitig diese Tür hier bewachen. Deshalb mußt du sie bewachen.«
Damson Rhee wollte Einspruch erheben, aber Coll ließ sie nicht zu Wort kommen. »Es hat keinen Sinn zu streiten, Damson. Du weißt, daß ich recht habe. Ich habe auf dich gehört, wenn es sein mußte; diesmal mußt du auf mich hören.«
»Es tut nichts zur Sache, wer hier auf wen hört. Ich möchte, daß keiner von euch beiden mitkommt«, sagte Par nachdrücklich.
Coll schenkte seinen Worten keine Beachtung. »Dir bleibt keine Wahl.«
»Warum darf ich nicht mitkommen?« wollte Damson Rhee ärgerlich wissen.
»Weil er mein Bruder ist!« Colls Stimme glich einem Peitschenschlag, und seine rauhen Züge wurden hart. Aber als er wieder zu sprechen anfing, war seine Stimme seltsam weich. »Es kann kein anderer sein als ich; aus diesem Grund bin ich mitgekommen. Aus diesem Grund bin ich überhaupt hier.«
Damson Rhee wurde bleich und verstummte. »Also gut«, stimmte sie zu, aber ihr Mund zuckte, als sie es sagte. Sie wandte sich ab. »Maulwurf, bewache die Hängebrücke.«
Der kleine Kerl ließ seinen Blick abwechselnd von einem zum anderen schweifen; in seinen leuchtenden Augen lag ein Ausdruck von Bestürzung. »Ja, liebliche Damson«, murmelte er und verschwand auf den Stufen.
Par wollte gerade das Wort ergreifen, als Coll ihn bei den Schultern packte und gegen die verwitterte Tür drückte. Ihre Blicke trafen sich und hielten einander fest.
»Wir sollten unsere Zeit nicht länger mit Streiten vergeuden«, sagte Coll. »Wir wollen’s einfach hinter uns bringen. Du und ich.«
Par versuchte sich loszumachen, aber Colls große Hände hielten ihn fest wie Schraubstöcke, und er gab nach. Coll ließ ihn los. »Par«, sagte er, und seine Worte klangen fast wie ein Flehen, »ich habe die Wahrheit gesagt. Ich muß mit dir gehen.«
Schweigend sahen sie einander an.
Par mußte plötzlich an all das denken, was sie durchgemacht hatten, an die Mühsale, die sie auf sich genommen hatten. Er wollte Coll wissen lassen, daß ihm dies sehr viel bedeute, daß er ihn liebe, daß er sich um ihn sorge. Aber statt dessen sagte er einfach: »Ja, ich weiß.«
Dann ging er auf die schwere, verwitterte Tür zu, schob den Riegel zurück und drückte die abgenutzte Klinke nach unten. Die Tür flog auf, und der Nebel drang zu ihnen herein.
Par blickte sich nach Damson Rhee um. Sie nickte. Hieß das, daß sie warten würde? Daß sie ihn verstand? Er wußte es nicht.
Mit Coll an seiner Seite trat er in die Schlucht hinaus.
31
Wo war Teel? Morgan Leah kniete neben Steff nieder, berührte sein Gesicht und spürte dessen Kälte in seinen Fingern. Er packte Steff, aber dieser schien nicht einmal das zu spüren. Morgan löste seine Hände von ihm und setzte sich wieder auf die Fersen. Seine Augen durchbohrten die Dunkelheit um ihn herum.
Wo war Teel?
Die verschiedenen Möglichkeiten zogen an seinem geistigen Auge vorbei. War sie aufgestanden, um Steff etwas zu trinken, etwas Warmes zu essen, vielleicht eine wärmere Decke zu holen? Oder um nach dem Rechten zu sehen, weil sie durch eine Ahnung oder jenen sechsten Sinn aus dem Schlaf geschreckt worden war, der einem das Leben rettet, wenn man ständig auf der Flucht ist?
Nein. Er kannte die Antwort. Sie war zum Geheimgang gegangen, und zwar um die Soldaten der Föderation durch ihn zum Zeigefinger zu führen. Sie war im Begriff, sie ein letztes Mal zu verraten.
»Keiner außer Damson, Chandos und mir kennt den anderen Zugang – jetzt da Hirehone tot ist.«
Das waren Padishar Creels Worte gewesen, als er von dem geheimen Fluchtweg gesprochen hatte – Worte, die Morgan völlig entfallen waren. Die Klarheit der Erinnerung ließ ihn frösteln. Wenn seine Folgerungen stimmten, wenn es stimmte, daß der Verräter ein Schattenwesen war, das ihnen in Hirehones Gestalt nach Tyrsis gefolgt war, dann besaß es Hirehones Gedächtnis und kannte auch den Geheimgang.
Und wenn das Schattenwesen jetzt in Gestalt von Teel…
Morgan spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Die Föderation würde Monate brauchen, um den Zeigefinger durch Belagerung einzunehmen. Aber was war, wenn die Belagerung nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver war? Was war, wenn selbst der Kriecher, der freilich versagt hatte, nur zur Ablenkung gedient hatte? Was war, wenn es von Anfang an die Absicht der Föderation gewesen war, den Zeigefinger von innen einzunehmen, durch Verrat, durch den Gang, der den Geächteten als Fluchtweg hatte dienen sollen?
Morgan Leah war wie gelähmt. Er mußte Steff allein lassen und unverzüglich mit Padishar Creel sprechen. Wenn sein Verdacht in bezug auf Teel stimmte, mußte sie gefunden und aufgehalten werden.
Daß Teel möglicherweise der schlimmste ihrer Feinde war, der sie allesamt seit Culhaven verfolgt und so vollkommen getäuscht hatte, ganz besonders Steff, der davon überzeugt war, daß er ihr sein Leben verdankte, und der sie liebte – das Entsetzen, das von diesem Gedanken ausging, schnürte ihm die Kehle zu. Er wußte, daß dieses Entsetzen nicht von der bloßen Möglichkeit des Verrats herrührte, sondern von der Gewißheit.
Steff klammerte sich ängstlich an ihm fest. »Wo ist sie, Morgan? Du weißt es! Ich sehe es dir an!«
Morgan versuchte nicht sich loszumachen. Statt dessen sah er seinem Freund ins Gesicht und sagte: »Ich glaube, daß ich es weiß. Aber du mußt hier warten, Steff. Du mußt mich sie allein suchen lassen.«
»Nein.« Unwillig schüttelte Steff den Kopf. »Ich kom- me mit.« »Das kannst du nicht. Du bist zu schwach…« »Ich komme mit, Morgan! Sag mir, wo sie ist.« Der Zwerg wurde immer wieder von Fieberanfällen geschüttelt, aber Morgan wußte, daß er sich nur mit Gewalt aus dem Griff seines Freundes befreien konnte. »Also gut«, stimmte er zu.
Er stützte seinen Freund, und gemeinsam stapften sie in die Dunkelheit hinein. Er konnte Steff nicht allein zurücklassen, obwohl er wußte, daß sich die Dinge in seiner Gegenwart sehr viel schwieriger gestalten würden. Er würde einfach das tun, was er tun mußte, und zwar ungeachtet des Freundes. Plötzlich stolperte er und Steff mit ihm, weil sie die Rolle Tauwerk nicht gesehen hatten, die am Boden lag. Morgan erkannte jetzt erst, daß er sich noch nicht einmal die Zeit genommen hatte, seine Mutmaßung zu Ende zu denken. Teel war die Verräterin. Er mußte es akzeptieren. Steff konnte es zwar nicht, aber er hatte keine andere Wahl. Teel war diejenige…
Er dachte nicht weiter.
Nein. Nicht Teel. Nenn dieses Ding nicht Teel. Teel ist tot. Also nicht Teel. Das Schattenwesen, das sich in Teel versteckt.
Sein Atem ging immer schneller, als er mit Steff, der sich an ihm festhielt, durch die Nacht eilte. Das Schattenwesen mußte ihren Körper verlassen und Hirehones Gestalt angenommen haben, um Padishar Creels kleiner Truppe zu folgen und sie an die Föderation zu verraten. Dann hatte es Hirehones Körper verlassen, war zum Lager zurückgekehrt, hatte die Wachen getötet, um unbemerkt zu bleiben, und erneut von Teel Besitz ergriffen. Steff hatte überhaupt nicht mitbekommen, was geschehen war. Er hatte geglaubt, Teel sei vergiftet worden. Das Schattenwesen ließ ihn in dem Glauben. Es hatte es sogar fertiggebracht, den Verdacht auf Hirehone zu lenken, indem es ihm erzählt hatte, daß es ihm vor der Bewußtlosigkeit zum Rand der Anhöhe gefolgt sei. Er fragte sich, wie lange Teel schon ein Schattenwesen war. Schon sehr lange, entschied er. Er stellte sich ihren Körper als eine leere Hülle vor, und er knirschte mit den Zähnen ob dieser Vorstellung. Er erinnerte sich an Pars Bericht davon, wie das Schattenwesen auf dem Tofferkamm in Gestalt eines kleinen Mädchens versucht hatte, von ihm Besitz zu ergreifen. Er erinnerte sich an das Entsetzen und den Ekel, von dem der Talbewohner gesprochen hatte.