Die Zauberkraft! Großer Gott, es war die Zauberkraft!
Eine Kraft wogte durch die Klinge, die Teel in einen roten Feuerball verwandelte. Ihre Hände rissen an der Klinge, an ihrem Gesicht, und die Maske fiel herab. Morgan sollte niemals vergessen, was sich darunter verbarg – ein Anlitz aus den schwärzesten Abgründen der Unterwelt, besessen von Dämonen, wie er sie sich in seinen schlimmsten Träumen nicht vorgestellt hatte.
Unsichtbare Hände wollten sich Morgans bemächtigen, wollten ihm Waffe und Seele entreißen.
»Leah! Leah!« Sein Schrei erinnerte an den Schlacht- ruf seiner Vorfahren, an die Könige, die sein Land tausend Jahre lang regiert hatten.
Das Schattenwesen stieß ein gellendes Kreischen aus. Während es zusammenbrach, zerfiel die Finsternis, die ihm seine Kraft gab, zu Staub. Teel kam wieder zum Vorschein, ein zerbrechliches, kraftloses Bündel. Sie fiel auf ihn nieder und war tot. Es dauerte mehrere Minuten, bis Morgan genügend Kraft hatte, um Teel von sich wegzuschieben. Er lag in einer Pfütze von Blut und lauschte der plötzlichen Stille. Er konnte nur den einen Gedanken fassen, daß er überlebt hatte.
Langsam fing sein Herz an, wie wild zu schlagen. Es war die Zauberkraft, die ihn gerettet hatte, die Zauberkraft des Schwertes von Leah. Himmel, sie war also doch nicht ganz verloren gegangen! Wenigstens ein Teil von ihr war erhalten geblieben, und wenn ein Teil erhalten war, dann bestand die Möglichkeit, daß sie vollständig zurückkehrte…
Gierig atmete er die Luft ein und schob den leblosen Körper von sich weg. Er war überraschend leicht. Während er sich auf seine Hände und Knie erhob, sah er sie an. Ihr Gesicht war nach wie vor verzerrt und voller Narben, doch die Dämonen, die er in ihm gesehen hatte, waren verschwunden.
Dann hörte er, wie Steff nach Luft rang. Unfähig, vollends aufzustehen, kroch er auf Knien zu seinem Freund. Steff lag auf dem Rücken; der Dolch steckte immer noch in seiner Brust. Morgan streckte die Hand aus, um ihn herauszuziehen, hielt jedoch sofort wieder inne. Er hatte gesehen, daß er zu spät kam, daß er seinen Freund nicht mehr retten konnte. Behutsam legte er die Hand auf dessen Schulter.
Steff schlug die Augen auf, die umherirrten, bis sein Blick auf Morgan fiel. »Teel?« fragte er leise.
»Sie ist tot«, flüsterte Morgan.
Das Gesicht des Zwergs verkrampfte sich vor Schmerz. Er hustete Blut. »Es tut mir leid, Morgan. Entschuldige… ich war blind.«
»Nicht nur du.«
»Ich hätte es sehen müssen… die Wahrheit. Hätte sie erkennen müssen. Ich… wollte nicht, glaube ich.«
»Steff, du hast uns das Leben gerettet. Wenn du mich nicht geweckt hättest…«
»Hör mir zu. Du bist mein bester Freund. Ich möchte… du sollst etwas für mich tun.« Wieder mußte er husten. »Ich möchte, daß du nach Culhaven zurückgehst und sicherstellst, daß Großmütterchen Elise und Tantchen Jilt versorgt sind.« Seine Augen schlossen sich und öffneten sich wieder. »Du verstehst doch, Morgan? Sie sind in Gefahr, weil Teel…«
»Ich verstehe«, unterbrach ihn Morgan.
»Ich habe nur noch sie«, flüsterte Steff, während er seine Hand nach Morgan ausstreckte. »Du mußt es mir versprechen.« Ein Seufzer entrang sich seiner Kehle, und die folgenden Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Ich habe Teel geliebt, Morgan.« Dann fiel seine Hand herunter, und er starb. An alles, was danach passierte, erinnerte sich Morgan nur ganz schemenhaft. Eine Weile blieb er neben Steff sitzen, so benommen, daß er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Dann erinnerte er sich an Padishar Creel. Er zwang sich, aufzustehen und nach dem großen Mann zu sehen. Padishar Creel lebte noch, war jedoch bewußtlos; sein linker Arm, mit dem er versucht hatte, die Hiebe mit der Eisenstange abzuwehren, war gebrochen, und aus der klaffenden Wunde an seinem Kopf sickerte Blut. Mit einem Druckverband versuchte Morgan die Blutung zu stillen, ließ jedoch den linken Arm, wie er war. Es blieb ihm keine Zeit, sich jetzt darum zu kümmern.
Die Brückenwinde war zerstört, und er sah keine Möglichkeit, sie zu reparieren. Falls die Föderation die Absicht hatte, einen Teil ihrer Armee noch heute nacht in den Geheimgang eindringen zu lassen, dann war es unmöglich, die Brücke hochzuziehen, um sie aufzuhalten. In wenigen Stunden war es Morgen. Das hieß, daß die Soldaten der Föderation höchstwahrscheinlich bereits losmarschiert waren. Selbst ohne ihre Führerin Teel würden sie keine Schwierigkeiten haben, dem Geheimgang bis zum Zeigefinger zu folgen.
Plötzlich wurde ihm bewußt, daß Chandos und die Männer, die er mitbringen sollte, immer noch nicht da waren. Sie hätten längst eintreffen müssen.
Er sagte sich, daß er es nicht riskieren konnte, auf sie zu warten. Er mußte diesen Ort verlassen. Er würde Padishar Creel tragen, da seine Bemühungen, ihn zu Bewußtsein zu bringen, gescheitert waren. Steff würde er zurücklassen müssen.
Als erstes rettete er das Schwert von Leah und steckte es vorsichtig in die provisorische Scheide. Dann trug er Teel und danach Steff zu der Spalte und warf sie hinunter.
Mittlerweile war er so schwach, daß er nicht mehr dar- an glaubte, den weiten Weg durch den Geheimgang zurücklegen zu können, ganz zu schweigen davon, daß er Padishar Creel tragen mußte. Aber es gelang ihm, ihn auf seine Schulter zu heben, und mit einer Fackel, die ihm den Weg wies, ging er los.
Es schien ihm, als wäre er bereits Stunden unterwegs, während er nichts hörte als die Geräusche seiner Stiefel auf dem Stein. Wo war Chandos? fragte er sich ein ums andere Mal. Warum war er nicht gekommen? Er stolperte und fiel fast unaufhörlich. Seine Knie und Hände bluteten. Plötzlich kamen ihm wunderliche Dinge in den Sinn, seine Jugendzeit und seine Familie, die Abenteuer, die er zusammen mit Par und Coll erlebt hatte, Steff und die Zwerge von Culhaven. Zeitweise mußte er weinen, als er daran dachte, was aus ihnen geworden war. Immer wenn er das Gefühl hatte, gleich zusammenzubrechen, redete er auf Padishar Creel ein, doch dieser schlief ruhig weiter. Und es schien, als nähme der Weg kein Ende.
Als Chandos schließlich in Begleitung einer Schar Geächteter sowie Axhinds und seiner Trolle doch noch auftauchte, hatte Morgan aufgegeben. Erschöpft war er zusammengebrochen.
Ebenso wie Padishar Creel wurde er den Rest des Weges getragen; dabei versuchte er zu berichten, was passiert war. Er wußte nicht wirklich, was er sagte. Er erinnerte sich später daran, daß Chandos von einem erneuten Angriff der Föderation berichtete, der ihn daran gehindert hatte, so schnell zu kommen, wie er vorgehabt hatte.
Es war immer noch dunkel, als sie auf der Anhöhe ankamen, und Morgan mußte feststellen, daß der Zeigefinger tatsächlich angegriffen wurde, vielleicht zur Ablenkung von den Soldaten, die durch den Geheimgang heran- schlichen. Die Vorbereitungen für die Flucht waren jedoch abgeschlossen. Die Verwundeten waren transportbereit. Morgan gehörte zu den letzteren. Chandos tauchte auf und unterhielt sich mit Morgan.
»Alles in Ordnung, Hochländer«, hörte Morgan ihn sagen. »Die Soldaten der Föderation befinden sich bereits im Geheimgang, aber die Taue der Brücken sind gekappt worden. Das wird sie für einige Zeit aufhalten – lang genug, damit wir uns sicher aus dem Staub machen können. Wir nehmen andere Stollen. Auch sie führen nach draußen, verstehst du? Der Weg wird etwas beschwerlicher durch die vielen Abzweigungen, die man nicht verfehlen darf. Aber Padishar Creel weiß, was er tut. Er überläßt nichts dem Zufall. Er ist wieder wach und kümmert sich darum, daß alle in Sicherheit kommen. Er ist zäh, der alte Padishar. Aber nicht zäher als du. Du hast ihm das Leben gerettet, jawohl. Du hast ihn in letzter Minute gerettet. Ruh dich jetzt aus. Es geht bald los.«
Morgan schloß die Augen und fiel in Schlaf. Er wurde durch das Rucken der Bahre, auf der er lag, sowie das Flüstern und die Schmerzensschreie der Männer, die ihn umgaben, mehr als einmal aus dem Schlaf gerissen.
Schließlich zwang er sich, wach zu bleiben, und versuchte den Kopf zu heben. Doch der Schmerz, der ihm wie ein Messer in den Nacken fuhr, ließ ihn sofort wieder niedersinken.