Par wich vor dem Mann, der sich Felsen-Dall nannte, zurück, vor der Kreatur, die in Wirklichkeit kein Mensch war, sondern ein Schattenwesen. Er wollte fliehen. Dann erinnerte er sich an das Schwert von Shannara, und tollkühn änderte er seinen Entschluß. Wenn er an das Schwert gelangte, dachte er grimmig, besaß er eine Waffe, mit der er Felsen-Dall vernichten konnte.
Aber das Schattenwesen schien sorglos. Langsam glitt die dunkle Gestalt wieder in Felsen-Dalls Körper hinein, und die Stimme des großen Mannes kehrte zurück. »Man hat dich belogen, Talbewohner. Wiederholt. Man hat dir erzählt, daß die Schattenwesen das Böse sind, daß sie Parasiten sind, die sich menschlicher Körper bemächtigen, um sie für ihre Zwecke zu gebrauchen… Nein, mach dir nicht die Mühe, es abzustreiten oder zu fragen, woher ich das weiß«, sagte er schnell und schnitt Par, der seiner Überraschung Ausdruck geben wollte, das Wort ab. »Ich weiß alles über dich, über deine Reise nach Culhaven, den Wildewald, das Hadeshorn und noch mehr. Ich weiß von deiner Zusammenkunft mit dem Geist Allanons. Ich kenne die Lügen, die er dir erzählt hat. Lügen, Par Ohmsford – und sie beginnen mit den Druiden! Sie erzählen dir, was zu tun ist, um die Schattenwesen zu vernichten, um die Welt wieder zu einem sicheren Ort zu machen. Du sollst das Schwert von Shannara suchen, Wren die Elfen und Walker Boh das entschwundene Paranor – ich weiß das alles.« Das schroffe Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Aber hör dir das an, was du noch nicht weißt! Die Schattenwesen sind keine Mißgeburt der Natur. Wir sind die Nachfolger der Druiden! Wir sind das, was nach ihrem Verschwinden aus der Magie entstanden ist! Wir sind keine Monster, die sich der Menschen bemächtigen – wir sind selbst Menschen.«
Par schüttelte den Kopf, so als wolle er leugnen, was er gehört hatte, aber Felsen-Dall erhob die behandschuhte Hand. »Die Menschen besitzen Magie genau, wie einstmals die Wesen aus dem Feenland sie besessen haben. Genau wie die Elfen, bevor sie sich zurückgezogen haben. Und später die Druiden.« Seine Stimme klang wieder weich. »Ich bin ein Mann wie jeder andere, ausgenommen daß ich Magie besitze. Wie du, Par Ohmsford. Irgendwie habe ich sie von meinen Vorfahren geerbt, die in einer Welt gelebt haben, in der Magie etwas Alltägliches war. Die Magie hat sich ausgebreitet und Wurzeln geschlagen – nicht in der Erde, sondern in den Körpern der Männer und Frauen der Rassen. Jetzt besitzen wir die Macht, die einstmals das Vorrecht der Druiden war.« Er nickte und wartete auf Pars Antwort.
Aber Par gefror das Blut in den Adern vor dem, was er kommen fühlte.
»Ich sehe dir an, daß du mich verstehst«, sagte Felsen-Dall. »All das bedeutet, Par Ohmsford, daß auch du ein Schattenwesen bist.« Coll zählte im Geist die Sekunden, zählte so langsam, wie er nur konnte, und dachte bei jeder Sekunde, die er zählte, daß Par in Kürze zurückkehren werde. Aber sein Bruder blieb verschwunden.
Als fünf Minuten um waren, wollte Coll nicht länger warten. Er mußte hinein. Er mußte herausfinden, was mit Par geschehen war.
Er holte tief Luft. Das war der Augenblick, als ihn von hinten die Hände umfaßten und zu Boden zwangen.
»Du lügst!« schrie Par Felsen-Dall entgegen und vergaß einen Augenblick seine Angst, während er drohend einen Schritt vortrat.
»Es ist nichts Schlechtes dabei, ein Schattenwesen zu sein«, antwortete der andere scharf. »Es ist nur ein Wort, das andere gebraucht haben, um etwas zu benennen, das sie nicht wirklich verstehen. Wenn du die Lügen, die man dir aufgetischt hat, vergessen kannst, wirst du eher in der Lage sein zu verstehen, was ich dir sagen werde. Nehmen wir einmal an, daß ich recht habe! Wenn die Schattenwesen Menschen sind, die zu Nachfolgern der Druiden bestimmt sind, dann haben sie nicht nur das Recht, die Magie anzuwenden, sondern sogar die Pflicht. Die Magie ist ein Vermächtnis – hat nicht Allanon, als er im Sterben gelegen und Brin Ohmsford mit seinem Blut gezeichnet hat, dies gesagt? Die Magie ist ein Werkzeug, das zur Veredelung der Rassen und der Vier Länder benutzt werden muß. Warum ist es so schwer, das zu akzeptieren? Aber die Narren, die die Föderation beherrschen, glauben, daß alles, was sie nicht beherrschen können, unterdrückt werden muß. Jeder, der anders ist als sie selbst, ist ein Feind!« Das kantige Gesicht verhärtete sich. »Aber wer, glaubst du, strebt nach Vorherrschaft über die Vier Länder? Wer vertreibt die Elfen aus dem Westland, versklavt die Zwerge im Osten, belagert die Trolle im Norden und erhebt Anspruch auf den Besitz aller Vier Länder? Aus welchem Grund, glaubst du, fangen die Vier Länder an zu welken und zu sterben? Wer ist dafür verantwortlich? Du hast die armen Kreaturen gesehen, die in der Schlucht leben. Für Schattenwesen hältst du sie, oder etwa nicht? Ja, das sind sie – aber für ihren Zustand sind ihre Herren verantwortlich. Und das sind Menschen wie du und ich. Die Föderation sperrt sie ein, weil sie der Beweis für die Magie sind und man sie für gefährlich hält. Sie werden zu dem, wofür sie gehalten werden. Sie entbehren das Leben, das die Magie ihnen bieten könnte, und darüber werden sie wahnsinnig! Das Mädchen auf dem Tofferkamm – was ist ihr widerfahren, daß sie zu dem geworden ist, was sie ist? Sie verzehrte sich nach der Magie, die sie brauchte, nach der Anwendung der Magie und nach allem, was ihre geistige Gesundheit erhalten hätte. Sie wurde ins Exil getrieben… Es ist die Föderation, die mit ihren lächerlichen Erlassen und ihrer erdrückenden Herrschaft die Vernichtung der Vier Länder bewirkt! Es sind die Schattenwesen, die die Möglichkeit haben, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen!… Was Allanon betrifft, so ist er in erster Linie und immer ein Druide. Wonach er strebt, weiß nur er selbst, und so wird es wahrscheinlich bleiben. Aber du tätest gut daran, das, was er dir erzählt, nicht allzu schnell zu glauben.«
Er sprach mit solcher Überzeugung, daß Par zum allerersten Mal zweifelte. Was war, wenn der Geist Allanons wirklich gelogen hatte? Stimmte es etwa nicht, daß die Druiden mit jenen schon immer ihr Spiel getrieben hatten, die ihnen zu Diensten waren? Walker Boh hatte behauptet, daß dem so sei, und davon gesprochen, daß es ein Fehler sei, Allanon zu glauben. Es war also möglich, dachte er verzweifelt, daß er vollkommen irregeleitet worden war.
»Du gehörst zu uns, Par Ohmsford«, sagte Felsen-Dall leise.
Par schüttelte schnell den Kopf. »Nein.«
»Du bist einer von uns. Du kannst es so lang und so laut leugnen, wie du willst, aber die Tatsache bleibt bestehen. Wir sind von der gleichen Sorte, du und ich-Besitzer der Magie, Nachfolger der Druiden, Bewahrer des Vermächtnisses.« Er hielt inne, überlegte. »Du hast immer noch Angst vor mir, stimmt’s? Ein Schattenwesen. Schon der Name flößt dir Angst ein. Sie ist die unvermeidliche Folge davon, daß du die Lügen, die man dir erzählt hat, für die Wahrheit gehalten hast. Du hältst mich für einen Feind statt für einen Freund.«
Par schwieg.
»Wir wollen sehen, wer lügt und wer die Wahrheit spricht.« Felsen-Dall deutete unvermutet auf das Schwert. »Zieh es aus dem Stein, Par. Es gehört dir; es ist dein angestammtes Besitztum als Erbe des Elfenhauses von Shannara. Nimm es. Berühre mich damit. Sollte ich tatsächlich die schwarze Kreatur sein, vor der man dich gewarnt hat, wird mich das Schwert töten. Sollte ich das Böse sein, das sich hinter einer Lüge verbirgt, wird das Schwert es erweisen. Nimm es also in die Hand. Benutze es.«
Par verharrte eine Zeitlang regungslos, sprang dann die Stufen zu dem Block aus rotem Marmor hinauf und ergriff das Schwert von Shannara mit beiden Händen. Er konnte die glänzende Klinge widerstandslos herausziehen. Eilig drehte er sich um und blickte Felsen-Dall an.
»Komm näher, Par«, flüsterte der andere. »Berühre mich.«
Erinnerungen schwirrten wie wild durch Pars Gedanken, Fetzen und Stücke des Liedes, das er gesungen hatte, der Geschichten, die er erzählt hatte. Was er in Händen hielt, war das Schwert von Shannara, der Talisman der Wahrheit, gegen den keine Lüge bestehen konnte.