Par konnte Colls Stimme hören, den rauhen Tonfall, die ihr eigene Klangfarbe. Im Geist durchlebte er noch einmal die Abenteuer, die sie gemeinsam erlebt hatten, als sie Kinder waren, die Tage, an denen sie ohne die Erlaubnis ihrer Eltern fortgegangen waren, die Orte, die sie aufgesucht hatten, die Menschen, denen sie begegnet waren und mit denen sie gesprochen hatten. Er ging die Ereignisse der vergangenen Wochen seit ihrer Flucht aus Varfleet noch einmal durch. Er wollte sich daran erinnern, wie sein Bruder in dieser Zeit gewesen war.
Coll, der jetzt tot war.
So lag er stundenlang da und hing seinen Gedanken nach; er versuchte die Tatsachen zu begreifen und anzunehmen. Ein Teil seines Selbsts weigerte sich zuzugeben, daß Coll nicht mehr lebte, obwohl er wußte, daß er tot war.
Nur selten sprach er mit Damson Rhee. Er lag in der unterirdischen Behausung des Maulwurfs inmitten der Stofftiere, die über ihn wachten.
Gleichwohl arbeitete sein Geist fieberhaft. Irgendwann würde er wieder zu Kräften kommen, das nahm er sich vor. Und dann würde ihm irgend jemand Rede und Antwort stehen müssen über das, was Coll angetan worden war.
34
Der Gefangene erwachte langsam aus seinem von Drogen erzwungenen Schlaf, der ihn seit seiner Gefangennahme gelähmt hatte. Er lag auf einer Schlafmatte in einem verdunkelten Raum. Die Stricke, mit denen er an Händen und Füßen gefesselt gewesen war, waren abgenommen worden, und die Tücher, mit denen man ihn geknebelt und ihm die Augen verbunden hatte, waren verschwunden. Er konnte sich frei bewegen.
Er setzte sich langsam auf, wobei er gegen einen plötzlichen Anflug von Schwindel ankämpfen mußte. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Sein Gefängnis maß zwanzig Quadratmeter. Man hatte eine Matte, eine Holzbank, einen kleinen Tisch und zwei Stühle hineingestellt. Er bemerkte ein Fenster mit Läden und eine Tür.
Er streckte die Hand aus und berührte die Wand. Sie war aus Steinblöcken und Mörtel errichtet worden. Er würde lange arbeiten müssen, um auf die andere Seite zu gelangen.
Der Schwindel ließ nach, und er stand auf. Auf dem Tisch stand ein Tablett mit Brot und Wasser, und er setzte sich und aß das Brot und trank das Wasser. Er sah keinen Grund, nicht zu essen und zu trinken; wenn die, die ihn hier eingesperrt hatten, seinen Tod wünschten, wäre er schon längst tot. Er erinnerte sich undeutlich an die Fahrt, die ihn hierher gebracht hatte, an die Geräusche des Wagens, auf dem er gelegen hatte, und der Pferde, die ihn zogen, an die leisen Stimmen der Männer, die unsanften Griffe der Hände, die ihn festhielten, wenn er gefüttert und wieder hingelegt wurde, und an den Schmerz, den er spürte, wenn er lang genug wach war, um überhaupt etwas zu spüren.
Er schmeckte immer noch die bitteren Drogen, die man ihm eingeflößt hatte, die wie Feuer in ihm gebrannt und ihn bewußtlos gemacht hatten, so daß er in einer Welt der Träume schwebte, die keine Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit hatte.
Er beendete sein Mahl und erhob sich. Wohin haben sie mich gebracht? fragte er sich.
Langsam, denn er war immer noch sehr schwach, begab er sich zu dem Fenster. Die Läden schlossen nicht dicht. Er spähte hinaus.
Er befand sich hoch oben in dem Gebäude, das sein Gefängnis enthielt. Die Sommersonne schien auf eine Landschaft von Wäldern und grasbedeckten Hügeln, die sich bis zum Rand eines riesigen Sees, dessen Wasser wie flüssiges Silber glänzte, erstreckte. Vögel flogen über den See, schwangen sich in die Höhe und stürzten sich wieder hinunter, und ihre Schreie klangen laut in der Stille. Am Himmel spannte sich ein gewaltiger Regenbogen von einem Ufer des Sees zum anderen.
Dem Gefangenen verschlug es den Atem. Der See war der Regenbogensee.
Durch den Spalt zwischen den Fensterläden konnte der Gefangene die Außenmauer des Gebäudes erkennen. Sie bestand aus schwarzem Granit.
Diesmal war er von seiner Entdeckung wie betäubt. Er konnte es nicht glauben: Er befand sich im Inneren der Südwache.
Aber wer hielt ihn gefangen? Die Föderation, die Schattenwesen oder jemand anderes? Und warum in der Südwache? Warum war er hier? Warum war er überhaupt noch am Leben?
Er schloß die Augen. Wieder einmal nur Fragen. Es schien, als würden die Fragen nie ein Ende nehmen.
Was war mit Par geschehen?
Coll Ohmsford öffnete die Augen. Er preßte das Gesicht gegen die Läden, spähte in die Landschaft hinaus und fragte sich, welches Schicksal seine Fänger ihm wohl zugedacht hatten. Es war Nacht, und Cogline träumte. Er lag im Schutz der Bäume des Waldes, der die öden Höhen umgab, auf denen einst Paranor gestanden hatte, und warf sich hin und her, verfolgt von Visionen. Zitternd vor Angst schreckte er aus dem Schlaf auf.
Er hatte geträumt, daß die Kinder von Shannara alle tot seien.
Einen Augenblick war er davon überzeugt, daß dem wirklich so war. Dann verwandelte sich seine Furcht in Zorn. Er begriff, daß das, was er geträumt hatte, eher die Vorahnung einer Möglichkeit war als Wirklichkeit.
Nachdem er sich beruhigt hatte, entfachte er ein kleines Feuer, an dem er sich eine Zeitlang wärmte, bevor er eine Prise eines silbrigen Pulvers aus einem Beutel an seinem Gürtel nahm und sie in die Flammen warf. Rauch stieg auf und erfüllte die Luft vor ihm mit farbigen Bildern. Er betrachtete sie aufmerksam, bis sie wieder verschwanden.
Dann brummte er zufrieden, trat das Feuer aus und legte sich wieder hin. Die Bilder hatten ihm nur wenig enthüllt, aber das Wenige genügte ihm. Die Kinder von Shannara lebten. Es gab zwar Gefahren, von denen sie bedroht wurden, aber was geschehen mußte, geschah.
Der alte Mann schloß die Augen. Es gab nichts, was in dieser Nacht hätte getan werden müssen. Alles war, wie es sein mußte.
Dann schlief er ein.