Der alte Mann trat näher an das Licht heran. »Bah. Eines der kleinen Nachtgespenster hat sich wohl hierher verirrt«, murmelte er voll Ekel. Er blickte spöttisch auf Par. »Bist du in Ordnung, junger Ohmsford? Und der da? Heißt er nicht Coll? Er hat eben ziemlich viel einstecken müssen.«
Par ließ Coll auf den Boden gleiten und nickte. »Ja. Könntest du mir das Tuch und etwas Wasser reichen?«
Der alte Mann tat, wie geheißen, und Par betupfte Colls Schläfe, die sich blau zu verfärben begann. Coll wimmerte, setzte sich auf und vergrub seinen Kopf zwischen den Knien, in der Hoffnung, daß das Pochen dadurch aufhöre.
Par schaute auf. Es dämmerte ihm plötzlich, daß der alte Mann Colls Namen gewußt hatte. »Woher weißt du, wer wir sind?« fragte er vorsichtig.
Der alte Mann hielt seinem Blick stand. »Nun, ich weiß, wer ihr seid, weil ich euch gesucht habe. Aber ich bin keinesfalls euer Feind, wenn du das meinst.«
Par schüttelte den Kopf. »Nicht eigentlich, nachdem du uns auf diese Weise geholfen hast. Wir danken dir.«
»Euer Dank ist unnötig.«
Par nickte wieder. »Diese Frau, oder was sie war – es schien, als hätte sie Angst vor dir gehabt.« Er formulierte keine Frage, sondern stellte eine Tatsache fest.
Der alte Mann hob die Schultern. »Vielleicht.«
»Kennst du sie?«
»Ich habe von ihr gehört.«
Par zögerte, nicht sicher, ob er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen sollte oder nicht. »Warum hast du uns gesucht?«
»Tja, weißt du, das ist leider eine ziemlich lange Geschichte«, antwortete der alte Mann in einem Ton, der darauf schließen ließ, daß die Anstrengung, eine solche Geschichte zu erzählen, seine Kräfte bei weitem übersteigen würde. »Könnten wir uns vielleicht hinsetzen, während wir darüber sprechen? Die Wärme des Feuers würde meinen alten Knochen gut tun. Ihr habt nicht zufällig einen Schluck Bier übrig? Nein? Schade. Ich nehme an, daß ihr, so wie man euch aus Varfleet hinausbefördert hat, keine Möglichkeit gehabt habt, solche Köstlichkeiten mitzunehmen. Man kann schon von Glück sagen, daß ihr unter diesen Umständen mit heiler Haut davongekommen seid.« Er kam gemächlich näher, ließ sich sachte im Gras nieder, kreuzte die Beine und brachte seine grauen Gewänder sorgfältig in Ordnung. »Ich habe mir gedacht, daß ich euch dort treffen würde. Aber dann kam die Sache mit der Föderation dazwischen, und ihr wart plötzlich auf dem Weg nach Süden, bevor ich euch aufhalten konnte.« Er nahm sich einen Becher, den er in den Wassereimer tauchte, um dann in großen Schlucken zu trinken.
Coll hatte sich in der Zwischenzeit aufgesetzt und hörte zu, während er immer noch das feuchte Tuch gegen seine Schläfe preßte. Par setzte sich neben ihn.
Der alte Mann trank den Becher leer und wischte sich den Mund an seinem Ärmel ab. »Allanon hat mich geschickt«, erklärte er beiläufig.
»Allanon«, wiederholte Par.
»Allanon ist seit dreihundert Jahren tot«, platzte Coll heraus.
Der alte Mann nickte. »Da hast du recht. Ich muß mich verbessern: Es war in Wirklichkeit Allanons Geist, sein Schatten – aber nichtsdestoweniger Allanon.«
»Allanons Schatten?« Coll nahm das Tuch von seiner Schläfe, vergessen war die Verletzung. Er bemühte sich gar nicht, seinen Unglauben zu verbergen.
Der alte Mann rieb sich sein bärtiges Kinn. »Nun, mein Junge, du wirst dich etwas gedulden müssen. Vieles von dem, was ich euch sagen werde, werdet ihr vielleicht nicht glauben wollen, aber ihr müßt mir glauben, wenn ich sage, daß dies alles sehr wichtig ist.« Er rieb sich die Hände, die er zum Feuer hin ausstreckte. »Es wäre das Beste, wenn ihr mich als Boten sehen könntet. Betrachtet mich einfach als einen Boten Allanons. Par, warum hast du die Träume mißachtet?«
Par erschrak. »Du weißt also davon?«
»Die Träume sind dir von Allanon geschickt worden, sie sollten dich zu ihm bringen. Verstehst du das nicht? Es war seine Stimme, die du gehört, und sein Schatten, den du gesehen hast. Er ruft dich zum Hadeshorn – dich, deine Base Wren und…«
»Wren?« unterbrach ihn Coll ungläubig.
Der alte Mann schien ärgerlich. »Genau das habe ich doch gesagt, oder nicht? Muß ich wirklich alles zweimal sagen? Eure Base Wren Ohmsford. Und Walker Boh ebenfalls.«
»Onkel Walker«, sagte Par leise. »Ich erinnere mich.«
Coll warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu, dann schüttelte er ungläubig den Kopf. »Das ist doch lächerlich. Keiner von uns weiß, wo sich die beiden aufhalten!« gab er bissig zurück. »Wren lebt irgendwo im Westland bei den Fahrenden. Sie hat nicht mal ein Dach über dem Kopf! Und Walker Boh hat seit zehn Jahren kein Mensch mehr gesehen. Er könnte genauso gut tot sein.«
»Er könnte, aber er ist es nicht«, sagte der alte Mann gereizt. Er warf Coll einen vielsagenden Blick zu, bevor er sich wieder Par zuwandte. »Ihr sollt euch alle drei am Hadeshorn einfinden, und zwar dann, wenn der Mondzyklus beendet ist. In der ersten Nacht des neuen Mondes wird Allanon dort zu euch sprechen.«
Par spürte, wie ihn ein Schauer durchlief. »Über Magie?«
Coll berührte die Schulter seines Bruders. »Vielleicht über Schattenwesen?« äffte er ihn nach.
Der alte Mann beugte sich plötzlich vor, sein Gesicht hatte sich verhärtet. »Worüber es ihm beliebt. Ja, über Magie. Und über Schattenwesen. Über Wesen wie das, das dich wie ein kleines Kind zu Boden geworfen hat. Aber am meisten, junger Coll, darüber!«
Er warf eine Prise schwarzes Pulver ins Feuer, so unerwartet, daß Par und Coll mit einem Satz zurücksprangen. Die Flammen schlugen hoch auf.
Ein Bild tauchte aus der Dunkelheit auf, wurde größer und größer. Es war ein Bild der Vier Länder. Die Länder waren öd und leer, verwüstet und bar allen Lebens. Dunkelheit und raucherfüllte Luft hingen über ihnen. In den Flüssen schwamm Treibgut, das Wasser war vergiftet. Bäume lagen umgeknickt am Boden, tot. Nur Buschwerk wucherte überall. Menschen krochen umher wie Tiere, und die Tiere flohen bei ihrem Anblick. Schatten mit seltsamen roten Augen durchstreiften das Land, berührten jene Menschen, die am Boden dahinkrochen, und machten sich an ihnen zu schaffen, bis sie ihre Konturen verloren hatten und unkenntlich wurden.
Der Anblick war ein Alptraum, der Par und Coll Ohmsford mit einem solchen Entsetzen erfaßte, daß sie glaubten, selbst am Ort des Geschehens zu sein und daß die Schreie, die aus den Kehlen der gequälten Menschen drangen, ihre eigenen seien.
Dann verblaßte das Bild, und sie saßen wieder am Feuer. Der alte Mann beobachtete sie mit Adleraugen.
»Das war ein Teil meines Traums«, flüsterte Par.
»Das war die Zukunft«, erwiderte der alte Mann.
»Oder ein Trick«, murmelte Coll, den seine Furcht gelähmt hatte.
Der durchbohrende Blick des alten Mannes war auf sie gerichtet. »Die Zukunft ist so lange ein sich ständig verändernder Irrgarten von Möglichkeiten, bis sie zur Gegenwart wird. Die Zukunft, die ich euch heute abend vor Augen geführt habe, ist noch nicht festgelegt. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß die Zukunft genau so aussehen wird, wächst mit jedem Tag, der vergeht, an dem nichts unternommen wird, um das Übel abzuwenden. Wenn ihr sie verändern wollt, tut, wie ich euch geheißen habe. Geht zu Allanon! Hört auf das, was er euch sagt!«
Coll antwortete nichts, aus seinen Augen sprach noch immer Zweifel.
»Sag uns, wer du bist«, sagte Par leise.
Der alte Mann drehte sich zu ihm um, ließ seinen Blick kurz auf ihm ruhen, wandte sich dann von ihm ab und starrte in die Dunkelheit hinaus, so als ob es dort Welten gäbe, die nur er zu sehen vermochte. Schließlich sah er sie wieder an und nickte. »Nun gut, ich habe einen Namen, den ihr beide schnell genug wiedererkennen solltet. Ich heiße Cogline.«
Einen Augenblick schwiegen Par und Coll. Dann fingen sie gleichzeitig an zu sprechen.
»Cogline, der gleiche Cogline, der im Ostland gelebt hat mit…?«
»Meinst du den gleichen Mann, der Kimber Boh…?«
Er unterbrach sie ungeduldig. »Ja, ja. Wie viele Coglines kann es denn schon geben!« Er runzelte die Stirn, als er den Ausdruck auf ihren Gesichtern bemerkte. »Ihr glaubt mir wohl nicht, was?«