»Auf die gleiche Weise, wie ich euch gefunden habe.« Der alte Mann schnippte mit den Fingern, und ein silbriges Licht blitzte vor ihren Augen auf. Er grinste, was seinem Gesicht einen geisterhaften Ausdruck verlieh. »Magie!« Er streckte seine knochige Hand aus.
Par ergriff sie zuerst und stellte fest, daß der alte Mann seine Hand mit eisernem Griff festhielt. Coll erging es ebenso. Sie warfen einander Blicke zu.
»Ich möchte euch zum Abschied noch einen Rat geben«, sagte der alte Mann unvermittelt. »Ihr erzählt diese Geschichten, diese Sagen von Druiden, von Magie und von euren Vorfahren, und betet einfach herunter, was war und was jetzt vergangen ist. Das ist alles gut und schön, aber es wäre schade, wenn ihr darüber vergessen würdet, daß letztendlich nur das zählt, was hier und jetzt geschieht. Die Magie hat viele Zwecke, aber ihr gebraucht sie nur auf eine einzige Art. Ihr müßt herausfinden, was ihr sonst noch damit anfangen könnt. Und das könnt ihr erst dann, wenn ihr sie versteht. Ich habe den Verdacht, daß ihr sie überhaupt nicht versteht.«
Er musterte sie kurz, bevor er sich umdrehte und in die Dunkelheit hineinstapfte. »Vergeßt nicht, die erste Nacht des neuen Mondes!« Als seine Gestalt nur noch ein Schatten war, blieb er plötzlich stehen und schaute zurück. »Noch etwas, woran ihr denken solltet!« Seine Stimme hatte mit einemmal einen schneidenden Ton. »Die Schattenwesen sind nicht bloß Gerüchte und Ammenmärchen. Sie sind so wirklich wie ihr und ich. Möglicherweise habt ihr bis heute nicht daran geglaubt, aber jetzt solltet ihr es besser wissen. Sie werden auf euch warten, wo ihr auch hingeht. Diese Frau, sie war auch eine von ihnen. Sie hat herumgeschnüffelt, weil sie gespürt hat, daß ihr die Zauberkraft besitzt. Und die anderen werden das Gleiche tun.«
Er setzte sich wieder in Bewegung. »Alle möglichen Dinge werden hinter euch her sein«, ermahnte er sie leise. Keiner von beiden verstand, was er weiter vor sich hin murmelte, als er langsam in der Dunkelheit verschwand.
5
In dieser Nacht fanden Par und Coll Ohmsford nur wenig Schlaf. Noch lange, nachdem der alte Mann sie verlassen hatte, saßen sie wach. Sie redeten und stritten, sie machten sich Sorgen, ohne es voreinander zuzugeben, und hielten gleichzeitig Ausschau nach den versprochenen Dingen, den Schattenwesen und sonstigen Wesen, von denen sie verfolgt wurden. Und selbst danach, als alles gesagt war und sie sich müde in ihre Decken wickelten, war ihr Schlaf unruhig. Sie warfen sich hin und her und schreckten immer wieder aus dem Schlaf auf.
Als der Tag anbrach, krochen sie unter ihren warmen Decken hervor und wuschen sich im kalten Wasser des Sees. Es dauerte nicht lange, bevor sie wieder anfingen zu reden und zu streiten. So ging es weiter, während sie frühstückten, was insofern ganz gut war, als sie wieder einmal nur wenig zu essen hatten und über ihrem Gespräch ihre knurrenden Mägen vergaßen. Das Gespräch, das mehr und mehr in einen Streit ausartete, drehte sich um den alten Mann, der behauptete, Cogline zu sein, und um die Träume, die vielleicht geschickt und vielleicht auch nicht geschickt waren, von Allanon oder nicht. Jeder legte seinen Standpunkt dar, wodurch sich eine Kluft zwischen ihnen auftat, die nur schwer zu überwinden war. Bereits eine Stunde nach Tagesanbruch hatten sie einander gründlich satt.
»Du kannst nicht bestreiten, daß immerhin die Möglichkeit besteht, daß der alte Mann wirklich Cogline ist«, sagte Par zum hundertsten Mal, als sie die Zeltplane zum Boot trugen, um sie dort zu verstauen.
Coll zuckte die Achseln. »Ich bestreite gar nichts.«
»Und wenn er wirklich Cogline ist, dann kannst du nicht abstreiten, daß alles, was er uns erzählt hat, ebenfalls wahr ist.«
»Auch das streite ich nicht ab.«
»Und was ist mit der Waldfrau? Was war sie denn, wenn sie kein Schattenwesen war? Es gibt keine andere Möglichkeit! Das heißt, daß, egal wie man es sieht, wenigstens ein Teil dessen, was der Alte uns erzählt hat, der Wahrheit entspricht.«
»Jetzt mach’s aber halblang.« Coll ließ die Plane zu Bo-den gleiten und stemmte die Hände in die Hüften. »Es ist immer das Gleiche mit dir, wenn wir streiten. Du machst diese lächerlichen Gedankensprünge und tust so, als wäre alles, was du sagst, vollkommen logisch. Wie kommst du zu dem Schluß, daß, falls die Frau ein Schattenwesen war, der alte Mann die Wahrheit gesagt hat?«
»Nun, weil…«
»Dabei stelle ich deine Behauptung, daß sie ein Schattenwesen war, noch nicht einmal in Frage«, unterbrach ihn Coll. »Obwohl wir nicht die leiseste Ahnung haben, was ein Schattenwesen ist, obwohl sie genauso gut etwas vollkommen anderes hätte sein können.«
»Etwas anderes? Was soll sie denn…«
»Eine Freundin des alten Mannes zum Beispiel. Ein Köder beispielsweise, um seine Geschichte glaubwürdig zu machen.«
Par war außer sich vor Wut. »Das ist doch lächerlich! Aus welchem Grund hätte er das tun sollen?«
Coll spitzte nachdenklich den Mund. »Um dich zu überreden, mit ihm zum Hadeshorn zu gehen, das ist doch klar. Um dich nach Callahorn zurückzubringen. Denk einmal darüber nach. Vielleicht interessiert sich der Alte auch für die Magie – genauso wie die Föderation.«
Ungläubig schüttelte Par den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
»Du willst es nicht glauben, weil du nicht als erster drauf gekommen bist«, erklärte Coll anzüglich, bevor er die Zeltplane wieder aufhob. »Wenn du dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hast, dann muß es auch so sein. Aber ich sage dir, diesmal solltest du deine Entscheidung nicht überstürzen. Es gibt noch andere Möglichkeiten, die bedacht werden wollen, und ich hab’ dir erst eine aufgezeigt.«
Schweigend erreichten sie das Flußufer und verstauten die Plane am Boden des Bootes. Obwohl die Sonne gerade erst aufging, war der beginnende Tag bereits warm. Kein Lüftchen wehte über die spiegelglatte Oberfläche des Regenbogensees, und die Luft war erfüllt von dem Duft von wilden Blumen und Gras.
Coll drehte sich um. »Weißt du, ich habe nichts dagegen, daß du eine feste Meinung hast. Es ist bloß, daß du immer davon ausgehst, daß ich deine Meinung teile. Wenn es nach dir ginge, müßte ich einfach immer nachgeben. Aber das habe ich keinesfalls vor. Wenn du dich auf den Weg zum Hadeshorn und den Drachenzähnen begeben willst, dann tu’s. Aber hör auf, so zu tun, als müsse ich vor Freude über die Möglichkeit, mich dir anzuschließen, in die Luft springen.«
Par antwortete nicht sofort. Er dachte statt dessen über ihre gemeinsame Jugendzeit nach. Par war zwei Jahre älter, und obwohl er Coll körperlich unterlegen war, war er schon immer der Anführer gewesen. Schließlich besaß er die Zauberkraft, und dadurch hatte er immer eine Sonderstellung eingenommen. Coll war immer der Ausgeglichenere der beiden gewesen – nicht so leicht in Wut zu versetzen, umsichtig, besonnen und der geborene Friedensstifter in allen Streitigkeiten. Außerdem mochte ihn jeder. Er brachte seine Zeit damit zu, sich um andere zu kümmern, Wogen zu glätten und verletzten Stolz wieder aufzurichten. Par dagegen hatte für solche Dinge weder Zeit noch Geduld gehabt, er war vielmehr damit beschäftigt gewesen, neue Herausforderungen anzunehmen, neue Ideen zu entwickeln. Er verfügte über hellseherische Fähigkeiten, aber die Empfindsamkeit Colls blieb ihm versagt. Er sah die Möglichkeiten des Lebens klar voraus, aber Coll war derjenige, der um die Opfer, die das Leben forderte, wußte.
In der Vergangenheit hatte jeder oftmals für die Fehler und Sünden des anderen geradegestanden. Aber Par hatte immer die Magie, auf die er sich verlassen konnte, so daß es ihm keine große Mühe bereitet hatte, für Coll einzutreten. Für Coll war die Sache dagegen anders. Ihn hatte es oft große Mühe gekostet zu helfen. Aber Par war sein Bruder, den er liebte, und er beklagte sich nie. Wenn Par an jene Tage zurückdachte, war er manchmal beschämt darüber, wieviel er von seinem Bruder im Lauf der Zeit freiwillig angenommen hatte.
Er schob die Erinnerungen beiseite. Coll schaute ihn an und wartete auf seine Antwort. Par rutschte ungeduldighin und her und dachte darüber nach, welche Art von Antwort angebracht war. Dann sagte er einfach: »Schon gut. Was schlägst du vor, was wir tun sollen?«