»Ich glaube, die Waldfrau hat sich wirklich vor dem alten Mann gefürchtet«, sagte Par, als sie auf dem Weg zu einem kleinen Eschenhain eine lange, steile Böschung erklommen. »Ich glaube nicht, daß ihre Angst vorgetäuscht war. Keiner kann so gut schauspielern.«
Coll nickte. »Ich glaube, da hast recht. Damit, daß ich angedeutet habe, daß die beiden zusammenarbeiten, wollte ich dich nur zum Nachdenken zwingen. Doch die Frage, ob der Alte uns wirklich alles gesagt hat, geht mir einfach nicht aus dem Sinn. Das, was mir aus den Geschichten über Allanon am meisten in Erinnerung geblieben ist, ist, daß er im Umgang mit den Ohmsfords immer ausgesprochen vorsichtig und zurückhaltend war.«
»Er hat ihnen nie alles gesagt, das stimmt.«
»Also könnte es sein, daß der alte Mann ihm ähnlich ist.«
Nachdem sie die Anhöhe erreicht hatten, ließen sie ihre zusammengerollten Decken zu Boden sinken und begaben sich in den Schatten der Eschen, um von dort aus ihren Blick über das Hochland schweifen zu lassen. Der Schweiß rann ihnen aus allen Poren und ließ ihre Hemden an ihren Rücken kleben.
»Wir werden’s heute nicht mehr bis nach Hause schaffen«, sagte Par, während er sich im Schatten der Bäume niederließ.
»Es sieht nicht danach aus, das stimmt«, pflichtete Coll ihm bei, der jetzt alle viere von sich gestreckt hatte.
»Ich habe nachgedacht.«
»Das kann nie schaden.«
»Ich habe darüber nachgedacht, wo wir die Nacht verbringen können. Es wäre nicht schlecht, zur Abwechslung mal wieder in einem Bett zu schlafen.«
Coll lachte. »Dagegen hätte ich bestimmt nichts einzuwenden.
Hast du eine Ahnung, wo wir hier mitten im Niemandsland ein Bett finden sollen?«
Par drehte sich langsam um und sah ihn an. »Ich habe tatsächlich eine Idee. Morgans Jagdhütte ist nur einige Meilen von hier entfernt. Ich wette, wir könnten sie für eine Nacht ausleihen.«
Coll blickte gedankenvoll drein. »Ja, ich wette, das könnten wir.«
Morgan Leah war der älteste Sohn einer Familie, deren Vorfahren einst Könige von Leah waren. Die Monarchie war jedoch vor fast zweihundert Jahren, als die Föderation sich nach Norden ausgedehnt und das Hochland verschlungen hatte, abgeschafft worden. Seit dieser Zeit gab es in Leah keine Könige mehr, und die Familie hatte in all den Jahren danach von der Landwirtschaft und dem Handwerk gelebt. Das gegenwärtige Familienoberhaupt, Kyle Leah, lebte als Landbesitzer im Süden der Stadt und züchtete Rinder. Morgan, sein ältester Sohn und gleichzeitig Par und Colls bester Freund, hatte dagegen nichts als Unsinn im Kopf.
Die Jagdhütte gehörte der ganzen Familie, aber Morgan war derjenige, der sie am meisten nutzte. Als die Brüder Ohmsford das Hochland zum letzten Mal besucht hatten, waren sie eine Woche Morgans Gäste gewesen. Sie hatten im Freien kampiert, waren auf der Jagd gewesen und hatten gefischt, aber die meiste Zeit hatten sie damit zugebracht, Morgan zuzuhören, wenn er davon berichtete, wie er sich ständig bemühte, den Mitgliedern der Föderationsregierung in Leah das Leben schwer zu machen. Morgan Leah war der hellste Kopf und der schnellste Mann im ganzen Südland, und er hegte eine beharrliche Abneigung gegen die Truppen, die sein Land besetzt hielten. Leah war im Gegensatz zu Shady Vale, der Heimat der Ohmsfords, eine große Stadt, die der Bewachung bedurfte. Nachdem die Föderation die Monarchie abgeschafft hatte, ernannte sie einen Gouverneur und stationierte ein Regiment Soldaten in der Stadt, um auf diese Weise für Recht und Ordnung zu sorgen. Morgan betrachtete diesen Umstand als persönliche Herausforderung. Er ergriff jede Gelegenheit, die sich ergab oder auch nicht ergab, um die Beamten, die jetzt in aller Bequemlichkeit, aber ohne rechtmäßigen Anspruch im Haus seiner Vorfahren residierten, zu schikanieren. Es war jedesmal ein ungleicher Wettkampf. Morgan war der geborene Unruhestifter und viel zu klug, als daß die Beamten der Föderation ihn jemals für die Quelle des Übels hätten halten können, ganz zu schweigen davon, daß sie die Quelle zum Versiegen hätten bringen können.
Die Brüder luden sich ihr Gepäck auf den Rücken und machten sich noch einmal auf den Weg. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, aber die Luft stand still, und die Hitze wurde sogar noch drückender. In dieser Höhe war die Erde im Hochsommer so trocken, daß das Gras, dessen grüne Halme sich in bräunlich graue Schuppen verwandelt hatten, unter ihren Schritten knisterte. Kleine Staubwölkchen stiegen zu ihren Füßen auf, und ihr Mund wurde immer trockener.
Die Sonne war fast untergegangen, als sie die Jagdhütte sichteten, ein Gebäude aus Stein und Holz, das mit Blick nach Westen inmitten eines kleinen Kiefernwäldchens auf einer kleinen Anhöhe stand. Müde und verschwitzt ließen sie ihr Gepäck an der Eingangstür fallen und machten sich schnurstracks auf den Weg zu den Quellen, die einige hundert Meter hinter dem Haus inmitten von Bäumen versteckt lagen. Als sie sie erreichten, streiften sie unverzüglich ihre Kleider ab und spürten nur noch das Bedürfnis, sich in dem Wasser zu baden.
Aus diesem Grund sahen sie auch das Schlammwesen erst, als es fast vor ihnen stand.
Es kroch aus den Büschen zu ihrer Seite hervor, ein in eine Schlammkruste eingehülltes Wesen, das kaum menschliche Züge trug und ein wildes Brüllen ausstieß, das die Stille um sie herum erzittern ließ.
»Ah! Zwei leckere Talbewohner!« schnarrte das Wesen, dessen Stimme plötzlich ganz vertraut klang.
»Zum Teufel, Morgan!« rief Par. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt, verdammt noch mal!«
Coll sagte mit ruhiger Stimme: »Und ich habe geglaubt, du hättest nur die Absicht, die Föderation aus Leah zu vertreiben und nicht deine Freunde.«
Morgan Leah, der in seinem Schlammkokon vor ihnen stand, bog sich vor Lachen. »Es tut mir leid, wirklich. Aber kein Mensch hätte einer solchen Gelegenheit widerstehen können. Ich bin sicher, ihr versteht das!«
Par blickte Morgan an. »Was um alles in der Welt machst du denn da?«
»Oh, du meinst den Schlamm? Gut für die Haut!« Morgan trottete zu den Quellen und stieg vorsichtig in das Wasser. »Ungefähr eine Meile von hier habe ich vor einigen Tagen zufällig Schlammbäder entdeckt. Hatte keine Ahnung, daß es hier so etwas gibt. Ich kann euch sagen, daß es an einem heißen Tag nichts Besseres gegen die Hitze gibt als Schlamm auf der Haut. Besser sogar noch als die Quellen. Ich habe mich also auf Schweineart darin gesuhlt und kam dann zurück, um mich abzuwaschen. Da hörte ich euch kommen und beschloß, euch auf echte Hochlandart willkommen zu heißen.«
Er tauchte im Wasser unter, als er wieder an der Oberfläche erschien, war aus dem Schlammungeheuer ein gutgewachsener, kräftiger junger Mann geworden, dessen Haut die Sonne eine schokoladenfarbene Bräune verliehen hatte, dessen rötliche Haare bis zur Schulter reichten und dessen klare graue Augen ihnen aus einem zugleich klugen und aufrichtigen Gesicht entgegenblickten. »Na, was meint ihr?« rief er aus und grinste.
»Großartig«, erwiderte Par.
»Aber, aber! Nicht jeder Trick ist weltbewegend. Doch das erinnert mich an etwas.« Morgan beugte sich fragend vor. Sein Gesichtsausdruck deutete wie so oft an, daß er sich über irgend etwas insgeheim amüsierte. »Solltet ihr beide nicht eigentlich oben in Callahorn die Eingeborenen unterhalten? Habt ihr mir das nicht als Letztes erzählt? Was macht ihr hier?«
»Was machst du hier?« gab Coll zurück.
»Ich? Ach, nur ein kleines Mißverständnis im Zusammenhang mit dem Gouverneur – ich fürchte jedoch, eigentlich im Zusammenhang mit seiner Frau. Natürlich verdächtigen sie nicht mich – das tun sie ja nie. Trotzdem schien mir ein kleiner Urlaub angebracht.« Morgan grinste jetzt über das ganze Gesicht. »Aber jetzt mal los, ich habe zuerst gefragt. Was ist los?«
Er ließ nicht locker, und da es zwischen den Dreien noch nie Geheimnisse gegeben hatte, erzählte Par, nicht ohne auf Colls Hilfe zurückzugreifen, was sie seit der Nacht in Varfleet, als ihnen Felsen-Dall und die Sucher der Föderation auf den Leib gerückt waren, durchgemacht hatten. Er erzählte ihm von den Träumen, die möglicherweise Allanon geschickt hatte, von ihrer Begegnung mit der schrecklichen Waldfrau, die möglicherweise ein Schattenwesen war, und von dem alten Mann, der sie gerettet hatte und möglicherweise Cogline war.