Sie begleiteten ihn zur Tür hinaus und ein Stückchen des Weges nach Westen, wo er sich von ihnen verabschiedete. Sie selbst kämpften immer noch mit dem Schlaf und konnten ihr Gähnen kaum unterdrücken.
»Legt euch einfach wieder aufs Ohr«, riet Morgan. »Schlaft, solang wie ihr mögt. Entspannt euch und macht euch keine Sorgen. In ein paar Tagen bin ich zurück.« Er winkte ihnen zum Abschied zu, wobei sich seine große, kräftige Gestalt, die wie immer Selbstvertrauen und Zuversicht ausstrahlte, gegen den noch dunklen Himmel abzeichnete.
»Sei vorsichtig«, rief Par ihm nach.
Morgan lachte. »Seid nur ihr vorsichtig!«
Die Brüder befolgten den Rat des Hochländers und leg-ten sich wieder aufs Ohr. Nachdem sie bis zum Nachmittag geschlafen hatten, brachten sie den Rest des Tages damit zu zu faulenzen. Am nächsten Tag dagegen standen sie früh auf, badeten in den Quellen, durchstreiften die Gegend vergeblich auf der Suche nach den Schlammbädern, säuberten die Jagdhütte und nahmen ein Abendessen zu sich, das aus Wildfleisch und Reis bestand. Sie unterhielten sich lange über den alten Mann und die Träume, über die Magie und die Sucher und ihre Pläne für die Zukunft. Sie stritten sich nicht, kamen aber auch zu keiner Entscheidung.
Der dritte Tag brachte Wolken, und als der Abend hereinbrach, regnete es. Sie saßen vor dem Feuer, das im großen steinernen Herd vor ihnen brannte, und übten sich lange Zeit im Geschichtenerzählen, wobei sie sich besonders mit den unbekannteren Sagen beschäftigten und versuchten, die Bilder aus Pars Liedern und die Worte aus Colls Geschichten in Übereinstimmung zu bringen.
Am vierten Tag kam Morgan zurück. Es war bereits Spätnachmittag, als die Brüder vor dem Feuer saßen, plötzlich die Tür aufging und er vor ihnen stand. Es hatte den ganzen Tag über nicht aufgehört zu regnen, und der Hochländer war völlig durchnäßt. Das Wasser tropfte auf den Boden, als er seinen Rucksack und seine Waffen ablegte und die Tür hinter sich zuzog. »Schlechte Neuigkeiten«, sagte er sofort. Sein rostfarbenes Haar klebte an seinem Kopf, und das Regenwasser glitzerte auf seinen wie gemeißelten Backenknochen.
Par und Coll erhoben sich langsam von ihrer Arbeit.
»Ihr könnt auf keinen Fall ins Vale zurückkehren«, sagte Morgan ruhig. »Die Föderationssoldaten sind überall. Ich konnte nicht mit Sicherheit feststellen, ob auch Sucher dort sind, aber es würde mich nicht im geringsten überraschen. Das Dorf steht ›unter dem Schutz der Föderation – das ist ihre Bezeichnung für gewaltsame Besetzung. Zweifellos warten sie auf euch. Ich habe nicht viele Fragen gebraucht, um das herauszufinden; es ist kein Geheimnis. Eure Eltern stehen unter Hausarrest. Ich glaube, es geht ihnen gut, aber ich konnte es nicht wagen, sie aufzusuchen. Das hätte zu viele Fragen nach sich gezogen.« Er holte tief Luft. »Irgend jemand will euch ernsthaft an den Kragen, meine Freunde.«
Par und Coll sahen einander an und versuchten gar nicht ihre Angst zu verbergen. »Was sollen wir jetzt machen?« fragte Par leise.
»Ich habe auf dem ganzen Weg darüber nachgedacht«, antwortete Morgan. Er streckte die Hand aus und legte sie auf Pars Schulter. »Wenn ich jetzt sage ›wir‹, dann meine ich ›wir‹, weil ich das Gefühl habe, daß ich jetzt zu euch gehöre.« Sein Griff wurde stärker. »Wir gehen nach Osten und suchen Walker Boh.«
6
Morgan Leah konnte sehr bestimmend sein, wenn er wollte, und das erfuhren Par und Coll im regenverhüllten Hochland auch in dieser Nacht.
Er hatte sich die Sache offenbar reiflich überlegt, und seine Schlußfolgerung war dementsprechend wohl durchdacht. Er behauptete schlichtweg, sie hätten die Wahl. Es dauerte nicht lange, bis er sich seiner nassen Kleider entledigt und abgetrocknet hatte und die Brüder mit Bier und Brot im Schneidersitz vor dem wärmenden Feuer saßen und seinen Ausführungen lauschten.
Er begann mit den bekannten Tatsachen. Sie wußten, daß sie nicht nach Shady Vale zurückkehren konnten – weder jetzt noch in naher Zukunft. Ebenso wenig konnten sie nach Callahorn zurückkehren. Eigentlich konnten sie so gut wie nirgendwo hingehen, wo man sie hätte vermuten können, denn da die Föderation so viel Zeit und Mühe aufgewandt hatte, sie so weit zu verfolgen, würde sie jetzt von ihrer Suche kaum ablassen. Felsen-Dall war als hartnäckiger Sucher bekannt. Er hatte ihre Verfolgung persönlich übernommen, und er würde so leicht nicht aufgeben. Die Sucher würden überall dort, wo die Föderation herrschte, nach ihnen suchen – und ihr Herrschaftsgebiet war riesengroß. Par und Coll konnten sich praktisch als Geächtete betrachten.
Wie sollten sie sich also verhalten? Da sie nirgendwohin gehen konnten, wo man sie vermutet hätte, mußten sie dorthin gehen, wo man sie nicht vermutete. Natürlich war der Trick dabei, nicht einfach irgendwohin zu gehen, sondern dorthin, wo sie gleichzeitig etwas erreichen konnten.
»Ihr könntet natürlich hier bleiben, wenn ihr wolltet, und würdet wer weiß wie lange nicht entdeckt werden, weil die Föderation niemals auf die Idee käme, hier im Hochland nach euch zu suchen.« Morgan zuckte die Schultern. »Es könnte sogar ganz lustig werden. Aber was würdet ihr damit erreichen? Zwei Monate, vier Monate, wie lang auch immer – ihr wärt immer noch Geächtete, könntet immer noch nicht nach Hause gehen, und nichts hätte sich geändert. Das können wir also streichen, oder? Ich schlage vor, daß ihr selbst aktiv werdet. Es wäre sinnlos, einfach nur dazusitzen und darauf zu warten, daß sich die Dinge ändern; ihr müßt selbst etwas tun.«
Was er damit sagen wollte, war, daß sie versuchen sollten, das Rätsel der Träume zu lösen. An der Tatsache, daß sie von der Föderation verfolgt wurden, daß die Soldaten Shady Vale besetzt hielten und daß sie jetzt Geächtete waren, konnten sie nichts ändern. Eines Tages würde sich all das vielleicht ändern, aber ganz sicher nicht in der nahen Zukunft. Die Träume waren dagegen eine Sache, mit der sie sich aktiv auseinandersetzen konnten. Falls sie sie wirklich für wichtig hielten, mußten sie ihnen nachgehen. Der alte Mann hatte ihnen mitgeteilt, daß sie in der ersten Nacht des neuen Mondes am Hadeshorn erwartet würden. Sie hatten sich bisher aus zwei guten Gründen dagegen gesträubt. Erstens wußten sie nicht genügend über die Träume, um zu wissen, ob sie wahr waren oder nicht, und zweitens waren sie nur zu zweit und würden sich damit möglicherweise in große Gefahr begeben.
»Warum also nicht etwas tun, das diese Ungewißheit lindert?« endete Morgan. »Warum nicht nach Osten gehen und Walker Boh suchen? Der alte Mann hat doch behauptet, daß Walker Boh die Träume ebenfalls geschickt wurden. Wäre es nicht vernünftig, ihn zu fragen, was er von den Träumen den Träumen hält? Der alte Mann wollte auch mit ihm reden. Und selbst wenn er das nicht getan hat, wäre es interessant, die Meinung Walker Bohs zu hören. Ich muß zugeben, ich habe euren Onkel immer für einen komischen Kauz gehalten, aber dumm ist er ganz bestimmt nicht. Und die Geschichten über ihn kennen wir alle. Sollte er tatsächlich immer noch einen Teil der Shannara-Magie besitzen, hätten wir jetzt die Möglichkeit, es herauszufinden.« Er nahm einen großen Schluck, lehnte sich vor und deutete mit dem Finger auf sie. »Falls Walker Boh an die Träume glaubt und sich entschließt, das Hadeshorn aufzusuchen, dann bekämt ihr vielleicht ebenfalls Lust hinzugehen. Dann wären wir schon zu viert. Wer uns dann etwas anhaben wollte, müßte es sich zweimal überlegen.« Er hob die Schultern. »Selbst wenn ihr euch entschließen solltet, nicht zu gehen, hättet ihr wenigstens eure Neugier befriedigt, anstatt hier oder anderswo einfach nur herumzusitzen. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn die Föderation euch im Anar suchen würde! Das ist der letzte Ort, an dem sie euch vermuten werden.« Er nahm noch einen Schluck sowie ein Stück frisches Brot und blickte sie an. Sie bemerkten wieder den Ausdruck in seinen Augen, der verriet, daß er etwas wußte, das sie nicht wußten, und er schien sich köstlich darüber zu amüsieren. »Nun?« sagte er schließlich.