Morgan war sprachlos. »Wer?« Das Wort war kaum hörbar.
Padishar Creel zuckte die Schultern und lachte. »Spielt das jetzt noch eine Rolle?« Er sah über seine Schulter. »Zeit, daß wir die Zelte hier abbrechen. Es paßt mir gar nicht, daß ich Axhind und seinen Männern von den Ereignissen berichten muß, aber es hätte wenig Sinn, sie hinters Licht führen zu wollen. Wenn ich sie wäre, würde ich schneller von hier verschwinden als ein Hase in seinen Bau.«
Die Trolle waren jedoch anderer Ansicht. Als die Verhandlungen abgebrochen wurden, machten Axhind und seine Gefährten keine Anstalten zu gehen. Sie verlangten statt dessen ihre Waffen zurück, setzten sich und begannen in aller Ruhe, die Klingen zu wetzen. Es schien, als warteten sie nur auf einen Kampf.
Morgan machte sich auf, die Zwerge zu suchen. Sie lagerten in einem kleinen Kiefernhain, wo ihnen ein Felsvorsprung einen natürlichen Schutz vor Wind und Wetter bot. Steff begrüßte ihn ohne große Begeisterung. Teel saß auf der Erde; ihr verhülltes Gesicht gab nichts von ihren Gedanken preis, obwohl ihre Augen wachsam glänzten. Sie sah erholter aus; ihr dunkles Haar war zurückgekämmt und ihre Hände ruhig, als sie sie Morgan zum Gruß hinstreckte. Er redete kurz mit ihr, doch sie erwiderte nur wenig. Morgan erzählte ihnen von Hirehone und dem Herannahen der Föderationsarmee. Steff nickte ernst; Teel zeigte überhaupt keine Reaktion. Als er sie verließ, fühlte er sich seltsam unzufrieden mit dem ganzen Besuch.
Die Föderationsarmee verteilte sich bei hereinbrechender Dunkelheit unterhalb des Zeigefingers. Zu Tausenden strömte sie aus dem Wald hervor, mit wehenden Fahnen und glänzenden Waffen. Standarten wurden vor jeder Kompanie gehißt – das schwarze Banner mit einem roten und einem weißen Streifen als Zeichen für gewöhnliche Soldaten, das strahlend weiße Wolfskopfabzeichen als Zeichen für Sucher. Zelte wurden aufgeschlagen und Feuer angezündet. Fast gleichzeitig fingen ganze Abteilungen an, Belagerungsmaschinen zu bauen, und das Geräusch von Sägen, mit denen Bäume gefällt, und von Äxten, mit denen Äste abgehauen wurden, erfüllte die Luft.
Die Geächteten, die zur Verteidigung gerüstet waren, beobachteten die Vorgänge aus sicherer Höhe. Morgan gesellte sich zu ihnen. Sie schienen entspannt und ruhig. Ihre Zahl betrug nur dreihundert, doch der Zeigefinger war eine natürliche Befestigungsanlage, die einer Armee hätte widerstehen können, die fünfmal so groß war wie diese. Die Aufzüge waren bereits hochgezogen worden, und die einzige Möglichkeit, jetzt noch heraufzukommen, bestand darin, die Felshänge emporzuklettern. Dies konnte nur mit Leitern oder Greifhaken bewerkstelligt werden. Doch schon eine Handvoll Männer hätte diesem Unterfangen ein Ende bereiten können.
Es war bereits stockdunkel, als Morgan wieder Gelegenheit hatte, mit Padishar Creel zu sprechen. Sie standen bei den Aufzügen, die jetzt scharf bewacht wurden, und sahen auf die vielen Lagerfeuer hinunter. Die Männer der Föderation arbeiteten auch jetzt noch, und ihr Lärm stieg aus den dunklen Wäldern in die nächtliche Luft auf.
»Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, daß mir dieser ganze Aufwand ziemliche Sorgen bereitet«, murmelte der Anführer der Geächteten mit hochgezogenen Brauen.
Morgan runzelte ebenfalls die Stirn. »Selbst mit ihrer Belagerungsausrüstung können sie doch nicht annehmen, hier heraufzukommen.«
Padishar Creel schüttelte den Kopf. »Das stimmt. Aber gerade das bereitet mir Sorgen.«
Sie sahen dem Treiben eine Weile zu, bevor Padishar Creel Morgan an ein geschütztes Plätzchen führte, wo er ihm zuflüsterte: »Ich muß dich ja nicht daran erinnern, daß wir jetzt zweimal verraten worden sind. Wer uns auch verraten hat, er ist immer noch da – vermutlich mitten unter uns. Sollte der Zeigefinger eingenommen werden, wird dies meiner Meinung nach genau auf die gleiche Weise geschehen… Ich werde alles tun, was ich tun kann, um den Zeigefinger zu schützen. Aber auch du, Hochländer, solltest die Augen offen halten. Es ist möglich, daß du Dinge siehst, die ich nicht sehe. Beobachte alles ganz genau, und wenn du etwas entdeckst, stehe ich tief in deiner Schuld.«
Nachdem sie ihr Gespräch beendet hatten, begab er sich zum Waffenmeister und bat um ein Breitschwert. Er suchte sich eines aus, das ihm gefiel. Dann machte er sich auf die Suche nach einer unbenutzten Scheide, bis er eine fand, die das Schwert von Leah aufnehmen konnte. Er kürzte die Scheide auf die Länge des kurzen Schwertes, band sie am unteren Ende zusammen und schnallte sie sich um.
Zum erstenmal seit Tagen fühlte er sich wieder wohl. Auch in dieser Nacht schlief er tief und fest – obwohl die Föderation die Belagerung weiter vorbereitete. Als die Sonne am Himmel aufging, wurden die Arbeiten eingestellt. Die plötzlich eintretende Stille ließ ihn aufwachen; er schlüpfte in seine Kleider, schnallte seine Waffen um und begab sich eiligst hinunter zum Rande des Abhangs. Die Geächteten bezogen mit kampfbereiten Waffen Stellung. Padishar Creel befand sich ebenfalls dort, bei ihm Steff, Teel und das Aufgebot der Trolle. Jeder einzelne verfolgte schweigend die Vorgänge unter ihnen.
Die Föderationsarmee trat an, Abteilungen formierten sich zu Kompanien. Sie waren gut ausgebildet, und ihre Aufstellung ging ohne Schwierigkeiten vonstatten. Sie umzingelten den Fuß des Zeigefingers, breiteten sich von einem Ende der Felswand zum anderen aus. Sturmleitern und Seile mit Greifhaken wurden herbeigeholt. Belage- rungstürme standen bereit, obwohl sie unfertig aussahen und kaum ein Drittel so hoch waren wie die Felshänge. Anführer riefen ihren Untergebenen Befehle zu, und langsam füllten sich die Zwischenräume zwischen den Kompanien.
Morgan berührte Steff an der Schulter. Der Zwerg sah ihn unsicher an, nickte und sah wieder weg.
Morgan runzelte die Stirn. Steff trug keine Waffen bei sich.
Hörner erschallten, und die Föderationsreihen schlossen sich zusammen. Plötzlich wurde es totenstill. Die im Osten aufgehende Sonne tauchte Rüstungen und Waffen in ein gleißendes Licht. Tau glitzerte auf Blättern und Gräsern, das Gezwitscher der Vögel erhob sich fröhlich in die Lüfte, das Geräusch von plätscherndem Wasser drang von weit her an ihr Ohr, und es schien Morgan Leah, als gliche dieser Morgen den vielen, die er, während er zu Hause in den Bergen umhergezogen war und gejagt hatte, willkommen geheißen hatte.
Doch dann bemerkte er, wie sich ganz hinten zwischen den Bäumen, hinter den langen Reihen der Soldaten, irgend etwas bewegte. Er sah, wie sich Äste und Baumstämme bewegten, und hörte, wie Baumrinde abgekratzt wurde. Plötzlich teilten sich die Föderationsreihen in zwei Lager und schufen einen Durchgang, der gut und gerne dreißig Meter betrug.
Das Etwas trat jetzt aus den schwindenden Schatten hervor. Es war riesig, eine Kreatur von gewaltigen Ausmaßen, eine Erscheinung, die aus den schrecklichsten Überresten eines Aasfressers bestand. Es setzte sich zusammen aus Haar, Sehnen und Knochen, aber gleichzeitig aus Metallplatten und Stäben. Es besaß scharfe Kanten und glänzende Oberflächen, Eisen, das in Fleisch eingepflanzt war, und Fleisch, das in Eisen hineingewachsen war. Es sah wie ein riesiges, mißgestaltetes Krustentier oder wie ein Wurm aus, doch war es keins von beiden. Es wackelte vorwärts, während seine funkelnden Augen nach oben zum Rand der Höhe wanderten. Augendeckel schnappten wie Messer, und Klauen kratzten achtlos am rauhen Stein.
Kurz dachte Morgan, es handle sich um eine Maschine. Doch bereits in der gleichen Sekunde wurde ihm klar, daß dieses Etwas lebendig war.
»Dämonenblut!« schrie Steff zornig und erschreckt auf. »Sie haben einen Kriecher mitgebracht!«
Langsam und behäbig arbeitete sich der Kriecher durch die Reihen der Föderationsarmee auf sie zu.
26
Jetzt erinnerte sich Morgan Leah an die Geschichten. Es schien, als hätte es schon immer Geschichten über die Kriecher gegeben, Legenden, die vom Großvater an den Vater, vom Vater an den Sohn, von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden. Sie wurden im Hochland und in den meisten Gebieten des Südlandes, die er besucht hatte, erzählt. Männer erzählten am nächtlichen Feuer bei einem Glas Bier Geschichten über die Kriecher, die Morgan und andere Knaben, die es sich am Rande des Kreises bequem gemacht hatten, vor Aufregung zittern ließen. Doch niemand maß diesen Geschichten große Bedeutung bei; schließlich wurden sie im gleichen Atemzug erzählt wie die wilden Phantasien von Schädelträgern und Mordgeistern und anderen Monstern, die aus einer so gut wie vergessenen Zeit stammten. Trotzdem wollte sie keiner so mir nichts dir nichts abtun. Denn die Zwerge im Ostland waren bereit, ihre Hand dafür ins Feuer zu legen.