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Steff war einer dieser Zwerge. Er hatte die Geschichten an Morgan weitergegeben – lange, nachdem Morgan sie zum erstenmal vernommen hatte –, und in seinen Augen handelte es sich dabei nicht um Legenden, sondern um wahre Geschichten. Er bestand darauf, daß sie sich wirklich zugetragen hatten. Sie waren Wirklichkeit.

Es war die Föderation, so erzählte er Morgan, die die Kriecher erschaffen hatte. Vor hundert Jahren, als der Krieg gegen die Zwerge in der tiefen Wildnis des Anar getobt hatte, als der Dschungel und die steilen Felswände den Armeen des Südlandes einen Strich durch die Rech- nung gemacht hatten, hatte die Föderation die Kriecher ins Leben gerufen. Die Zwerge waren zu der Zeit jedoch bereits zum Angriff übergegangen; sie hatten eine beträchtliche Widerstandstruppe aufgestellt, die entschlossen war, einer Gefangennahme zu entgehen und die Eindringlinge so lange zu bekämpfen, bis sie aus ihrer Heimat vertrieben waren. Aus ihrer Festung inmitten des Labyrinths von Schluchten und Hohlwegen des Ravenhorns waren die Zwerge in der Lage, die schwerfälligen Föderationstruppen fast nach Belieben anzugreifen. Während die Anstrengungen der Föderation erlahmten, schleppten sich die Monate dahin, und just zu dieser Zeit tauchten die Kriecher zum erstenmal auf.

Niemand wußte mit Sicherheit zu sagen, woher sie kamen. Manche behaupteten, es handle sich um Maschinen, die von den Ingenieuren der Föderation konstruiert worden seien, um eine Art Roboter, deren einzige Aufgabe darin bestand, die Befestigungen der Zwerge einzunehmen. Doch es gab andere, die meinten, daß keine Maschine das tun konnte, wozu die Kriecher in der Lage waren, sondern daß solche Monster Schläue und Instinkt besäßen. Ungeachtet ihres Ursprungs nahmen die Kriecher in der Wildnis des Anar Gestalt an und begannen zu jagen. Niemand und nichts konnte sie aufhalten. Schonungslos verfolgten sie die Zwerge, die sie, nachdem sie sie aufgespürt hatten, allesamt vernichteten. Kaum einen Monat später war der Krieg zu Ende, die Zwergenarmeen vernichtet, das Rückgrat der Widerstandsbewegung gebrochen.

Nach diesen Ereignissen verschwanden die Kriecher ebenso geheimnisvoll, wie sie aufgetaucht waren; es schien, als hätte die Erde sie verschlungen. Nur die Ge- schichten überdauerten, wurden jedoch mit jeder Wiedergabe grausiger und gleichzeitig ungenauer und büßten mit der Zeit ihren Wahrheitsgehalt ein, bis schließlich nur noch die Zwerge glaubten, daß sich all dies wirklich zugetragen hatte.

Morgan Leah starrte nach unten, während die Geschichten seiner Kindheit in ihm lebendig wurden, und riß sich dann von dem Anblick des Alptraums zu seinen Füßen los, um Steff einen verzweifelten Blick zuzuwerfen.

Der Zwerg starrte ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht an. »Ein Kriecher, Morgan. Ein Kriecher – nach all den Jahren. Weißt du, was das bedeutet?«

Morgan blieb keine Zeit, darüber nachzusinnen. Padishar Creel, der den Zwerg gehört hatte, stand plötzlich neben ihnen. Er ergriff Steffs Schultern mit beiden Händen und drehte ihn zu sich herum. »Los, erzähl! Was weißt du über dieses Monster?«

»Es ist ein Kriecher«, wiederholte Steff mit unnatürlicher Stimme, so, als wäre damit, daß er den Namen des Ungeheuers aussprach, schon alles gesagt.

»Ja, ja, schön und gut!« fuhr ihn Padishar Creel an. »Es ist mir egal, was es ist! Ich will wissen, wie man es aufhalten kann!«

Steff schüttelte langsam den Kopf, als wolle er seiner Sinne Herr werden. »Man kann es nicht aufhalten. Bis jetzt ist es noch keinem gelungen.«

Ein Murmeln ging durch die Reihen der Männer, die ihnen am nächsten standen und die Worte des Zwergs gehört hatten; böse Vorahnungen beschlichen die Verteidiger. Morgan war sprachlos; noch nie hatte Steff so verzagt geklungen. Er warf einen kurzen Blick zu Teel hinüber. Sie hatte Steff von Padishar Creel weggezogen, während ihre Augen unter ihrer Maske wie harte, funkelnde Steinchen wirkten.

Padishar Creel wandte sich seinen Männern zu. »Bleibt, wo ihr seid!« brüllte er denjenigen zornig zu, die angefangen hatten zu flüstern und sich zurückzuziehen. Das Flüstern und die Bewegung hörten augenblicklich auf. »Dem ersten, der meine Befehle mißachtet, ziehe ich das Fell über die Ohren!« Er warf Steff einen vernichtenden Blick zu. »Keine Möglichkeit, sagst du? Vielleicht für dich nicht – obwohl ich anderes vermutet und dich für einen besseren Mann gehalten hätte, Steff.« Er sprach leise. »Keine Möglichkeit? Es gibt immer eine Möglichkeit!«

Unter ihnen erklang ein kratzendes Geräusch, und alle drängten zu den Brustwehren. Der Kriecher hatte den Fuß der Felswand erreicht und machte sich auf den Weg nach oben, indem er sich in Spalten und Ritzen festhielt, in denen menschliche Hände und Füße niemals Halt gefunden hätten. Die Muskeln seines wurmartigen Körpers regten sich. Die Trommeln der Föderation, die im gleichmäßigen Rhythmus geschlagen wurden, kündigten das Herannahen des Monsters an.

Padishar Creel sprang waghalsig auf die Brustwehr hinauf. »Chandos! Ein Dutzend Bogenschützen hierher – sofort!«

Die Bogenschützen erschienen sogleich und bedachten den Kriecher, so schnell sie nur konnten, mit einem Pfeilhagel. Das Monster kroch weiter. Die Pfeile prallten an seiner Rüstung ab oder verschwanden wirkungslos in seinem dicken Fell. Selbst seine Augen, diese gräßlichen schwarzen Kugeln, die sich im Rhythmus seiner Körper- bewegungen langsam hin- und herbewegten, schienen undurchdringlich.

Padishar Creel zog die Bogenschützen zurück. Ein Freudengeheul entrang sich den Kehlen der Föderationssoldaten. Der Anführer der Geächteten rief nach Speerwerfern, doch selbst die schweren hölzernen Schäfte mit ihren eisernen Spitzen konnten das herannahende Monster nicht aufhalten. Sie prallten an ihm ab oder zerbrachen an den Felsen in Stücke, und der Kriecher kam immer näher.

Riesige Steinblöcke wurden herbeigeschafft und über den Abhang gestoßen. Einige krachten auf den Kriecher. Sie streiften ihn oder trafen ihn mit voller Wucht, und das Ergebnis war das gleiche. Das Monster kroch weiter. Wieder erhob sich ein Gemurmel, diesmal vor Angst. Zornig rief Padishar Creel den Männern zu, sich zu beruhigen. Er verlangte nach Buschwerk, das herbeigeschafft, angezündet und dann auf den Kriecher geworfen wurde – auch dies blieb ohne Wirkung. Rasend vor Wut, ließ er ein Faß mit siedendem Öl herbeibringen, dessen ausströmendes Öl angezündet wurde. Wie ein Raubtier fraß sich das Feuer am Felsen entlang und hüllte den herannahenden Kriecher in eine Wolke aus schwarzem Rauch. Aus den Reihen der Föderation erhoben sich Schreie, und die Trommeln verstummten. Die in der morgendlichen Luft aufsteigende Hitze war so erstickend, daß die Verteidiger gezwungen waren zurückzuweichen. Mit Steff und Teel an seiner Seite zog sich auch Morgan zurück. Steff schien auf seltsame Weise verwirrt.

Morgan half ihm zurücktreten. »Bist du krank?« fragte er flüsternd. »Steff, was ist los?«

Aber es schien nicht so, als wüßte der andere darauf eine Antwort. Er schüttelte einfach den Kopf. Dann brachte er mit Mühe die Worte heraus: »Feuer wird es nicht aufhalten. Das hat man schon versucht, Morgan. Feuer nützt gar nichts.«

Er hatte recht. Als die Hitze soweit nachließ, daß die Verteidiger zu ihren Brustwehren zurückkehren konnten, war der Kriecher immer noch da und kroch langsam weiter nach oben. Er hatte fast schon die Hälfte der Felswand erklommen. Er war jetzt so versengt und schwarz wie der Fels, an dem er hing, sonst jedoch unverändert. Das Trommeln der Föderationssoldaten unter ihnen hob wieder an.