Das Seil wurde rasch hochgezogen und mit ihm Padishar Creel, dessen Männer die Hände ausstreckten, um ihn in Sicherheit zu bringen. Einen Augenblick war die Schlacht vergessen. Chandos schrie seinen Männern vergeblich zu, sich wieder auf ihre Posten zu begeben; die Geächteten beachteten ihn nicht, als sie sich um ihren am Boden liegenden Anführer drängten. Dann war Padishar Creel auf den Beinen. Blut strömte über seinen ganzen Körper, ein Pfeil steckte tief in seiner rechten Schulter, ein anderer hatte sich in das weiche Fleisch seiner linken Seite gebohrt; sein Gesicht war blaß und vor Schmerz verzerrt. Er streckte die Hand aus und brach den Pfeil in seiner Seite entzwei, um dann mit einer Grimasse den Schaft herauszuziehen. »Zurück zu den Brustwehren!« brüllte er. »Sofort!«
Die Geächteten stoben auseinander. Padishar Creel drängte sich an Chandos vorbei, wankte zu den Brustwehren und spähte auf den Kriecher hinunter.
Der Kriecher hing immer noch in der Felswand, ohne sich zu bewegen, als sei er an den Felsen geklebt. Die Attacke der Bogenschützen und Wurfmaschinen der Föderation auf die Verteidigungslinien der Geächteten ging weiter, doch sie schienen nur noch halbherzig bei der Sache, denn auch sie verharrten in der Erwartung dessen, was als nächstes geschehen würde.
»Stürz endlich hinunter, zum Teufel nochmal!« schrie Padishar Creel außer sich vor Zorn.
Der Kriecher bewegte sich, verlagerte unmerklich sein Gewicht und schob sich nach rechts in dem Versuch, der glänzenden Öllache zu entkommen. Klauen kratzten und scharrten. Aber das Öl hatte seinen Zweck erfüllt. Der Griff des Monsters begann sich zu lockern, zunächst nur langsam, dann immer schneller. Ein Schrei des Entsetzens erhob sich aus den Reihen der Föderation, ein Freudenschrei aus den Reihen der Geächteten. Der Kriecher rutschte jetzt immer schneller nach unten und glitt auf einer Ölspur aus. Jetzt verlor er den Halt und stürzte in die Tiefe. Als er auf der Erde landete, stieg eine riesige Staubwolke gen Himmel, und die ganze Felswand wurde von dem Aufprall erschüttert.
»Das ist schon besser!« seufzte Padishar Creel und ließ sich neben der Brustwehr in die Hocke nieder, während er erschöpft die Augen schloß.
»Du hast ihm den Garaus gemacht!« verkündete Chandos.
Aber Padishar schüttelte den Kopf. »Damit ist noch gar nichts erreicht. Das war der Schrecken des heutigen Tages. Der morgige wird sicherlich einen anderen bringen. Und woher nehmen wir dann das Öl, da wir heute den letzten Tropfen vergossen haben?« Die dunklen Augen öffneten sich. »Schneidet diesen anderen Pfeil heraus, damit ich ein wenig schlafen kann.« An diesem Tag griff die Föderation nicht mehr an. Sie zog ihre Armee bis an den Waldrand zurück, um dort die Toten zu begraben und die Verwundeten zu versorgen. Nur die Wurfmaschinen wurden an Ort und Stelle belassen.
Bedauerlicherweise war der Kriecher nicht tot. Nach einiger Zeit schien er sich zu erholen und kroch schwerfällig in die schützenden Wälder des Parmakeil. Es war unmöglich zu erkennen, wie schwer er verletzt war, aber keiner wollte darauf wetten, daß sie ihn nie wieder zu Gesicht bekommen würden.
Padishar Creel, dessen Wunden gesäubert und verbunden worden waren, hatte man zu Bett gebracht. Aufgrund des Blutverlustes war er schwach, doch seine Verletzungen ließen ihn nicht untätig sein. Selbst während Chandos für seine Pflege sorgte, gab Padishar Creel Befehle zur künftigen Verteidigung des Zeigefingers. Er wollte eine besondere Waffe bauen lassen. Morgan hörte, wie Chandos mit einer ausgewählten Gruppe von Männern, die er herbeigerufen hatte, darüber sprach und sie in die größte der Höhlen schickte, um mit dem Bau zu beginnen. Sie nahmen ihre Arbeit unverzüglich auf, doch als Morgan fragte, was für eine Art Waffe gebaut werden sollte, wollte sich Chandos nicht darüber auslassen.
»Du wirst sie sehen, wenn sie fertig ist, Hochländer«, antwortete er barsch.
Unschlüssig, was er anfangen sollte, schlenderte Morgan zu der Stelle, wo Teel Steff hingebracht hatte, und fand seinen Freund fiebrig und in Decken eingehüllt vor. Teel beobachtete ihn argwöhnisch, als er Steffs Stirn fühlte, wie ein Wachhund, der keinem traut. Morgan konnte es ihr nicht verargen. Er sprach kurz mit Steff, aber der Zwerg war kaum bei Bewußtsein. Es schien besser, ihn schlafen zu lassen. Der Hochländer stand auf, warf einen letzten Blick auf Teel und wandte sich ab.
Den Rest des Tages verbrachte er damit, zwischen den Befestigungen und den Höhlen hin und her zu wandern und abwechselnd die Föderationsarmee und die geheime Waffe sowie Padishar Creel und Steff im Auge zu behalten. Er vollbrachte keine großen Taten, und die Stunden des späten Vormittags und dann des Nachmittags vergingen nur langsam. Er dachte an Par und Coll. Wie sollte er die beiden jemals wieder finden, jetzt, wo sie sich aus den Augen verloren hatten? Ganz sicherlich würden sie keinen Versuch wagen, zum Parmakeil vorzudringen, nicht jetzt, während die Föderationsarmee sie belagerte. Damson Rhee würde es nie zulassen.
Oder doch? Plötzlich fiel Morgan ein, daß sie es doch versuchen könnte. Es mußte einen zweiten Weg nach draußen geben. Oder nach drinnen.
Er beschloß nachzuforschen. Padishar Creel war mittlerweile wieder wach, und Morgan traf ihn auf der Bettkante sitzend an, während er zusammen mit Chandos eine Reihe von Rohskizzen betrachtete. Ein anderer Mann hätte sicherlich noch geschlafen und so versucht, wieder zu Kräften zu kommen; Padishar Creel dagegen sah aus, als wolle er sich sofort wieder in den Kampf stürzen. Die Männer blickten auf, als er auf sie zutrat, und Padishar Creel verstaute die Skizzen, so daß Morgan sie nicht sehen konnte. Er zögerte.
»Hochländer«, begrüßte ihn der andere, »setz dich zu mir.«
Überrascht ging Morgan auf ihn zu und setzte sich auf eine Kiste, die mit Metallbeschlägen gefüllt war. Chandos nickte, erhob sich dann wortlos und ging hinaus.
»Wie geht es deinem Freund, dem Zwerg?« fragte Padishar Creel ein bißchen zu beiläufig. »Geht es ihm schon besser?«
Morgan betrachtete den anderen. »Nein. Irgend etwas stimmt nicht mit ihm, aber ich weiß nicht, was es ist.« Er hielt inne. »Du traust niemand, stimmt’s? Nicht einmal mir.«
»Dir schon gar nicht.« Padishar Creel setzte sein entwaffnendes Lächeln auf, um es dann blitzschnell wieder verschwinden zu lassen. »Ich kann es mir nicht leisten, noch irgend jemand zu vertrauen. Zu viel ist passiert, als daß ich das noch könnte.« Er verlagerte sein Gewicht und verzog das Gesicht vor Schmerz. »Also erzähl. Was führt dich zu mir? Hast du etwas entdeckt, was ich deiner Meinung nach wissen sollte?«
Die Wahrheit war, daß Morgan aufgrund der aufregenden Ereignisse dieses Morgens die Aufgabe, mit der Padishar Creel ihn betraut hatte, nämlich herauszufinden, wer der Verräter war, vollkommen vergessen hatte. Er behielt dies jedoch für sich und schüttelte einfach den Kopf. »Ich habe eine Frage«, sagte er. »Zu Par und Coll Ohmsford. Glaubst du, daß Damson Rhee immer noch versuchen könnte, sie hierher zu bringen? Gibt es noch einen anderen Zugang zum Zeigefinger, den sie benutzen könnte?«
Der Blick, den Padishar Creel ihm zuwarf, war gleichzeitig unergründlich und vielsagend. Ein langes Schweigen trat ein, und Morgan spürte, wie ihm plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken lief, als er erkannte, wie seine Frage auf den anderen wirken mußte.
Er atmete tief ein. »Ich will nicht wissen, wo er ist, nur ob…«
»Ich verstehe deine Frage und weiß, warum du sie stellst«, sagte Padishar Creel und schnitt damit seinen Protest ab. Um die Augen und den Mund seines harten Gesichts bildeten sich plötzlich Falten. Er sagte zunächst nichts, sondern betrachtete den Hochländer eingehend. »Es gibt tatsächlich einen anderen Zugang«, sagte er schließlich. »Ich bin sicher, daß du von selbst darauf gekommen bist. Du verstehst genug von Taktik, um zu wissen, daß es immer mehr als einen Weg zu und von einem Zufluchtsort geben muß.«