Schließlich betraten sie einen Raum, den ersten von vielen, die alle miteinander verbunden waren; große Räume mit Fußböden aus Steinplatten, mit Wänden, an denen Vorhänge und Tapeten hingen, und einem Speicher. Der Raum war vom Boden bis zur Decke und von einer Wand zur anderen mit Kisten voll alter Kleider vollgestopft, Regale waren mit Schriftstücken, die fast schon zu Staub verfallen waren, Federn, unechtem Schmuck und Stofftieren jeder Form und Größe gefüllt. Verrostete Waffen lagen zerstreut im Raum herum.
Licht gab es ebenfalls. Öllampen, die an der Wand befestigt waren, tauchten den Raum in eine verschwommene Helligkeit; der entstehende Rauch zog durch Luftlöcher ab, die in den Ecken des Raumes in den darüberliegenden Fels gehauen waren.
Die Talbewohner sahen sich erwartungsvoll um. Außer ihnen war niemand im Raum.
Damson Rhee schien keineswegs überrascht. Sie führte sie in einen Raum, in dessen Mitte ein Tisch mit gebogenen Beinen und acht Stühle mit hoher Rückenlehne standen, und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen. Auf jedem Stuhl saß ein Tier, und die Talbewohner sahen das Mädchen fragend an.
»Sucht euch einen Platz aus, nehmt dann das Tier, das auf dem Stuhl sitzt, und setzt es auf euren Schoß«, erklärte sie ihnen und zeigte ihnen sogleich, was sie damit meinte. Sie wählte einen Stuhl, auf dem ein ausgestopfter Hase saß, hob die Kreatur hoch und legte sie, nachdem sie sich gesetzt hatte, bequem auf ihren Schoß.
Coll tat es ihr gleich; sein Gesicht war ausdruckslos, als er seinen Blick auf einen Fleck auf der gegenüberliegenden Wand heftete, als sei er überzeugt, daß das Geschehen keineswegs seltsamer war, als er dies vorausgesehen hatte. Par zögerte, bevor er sich gleichfalls nieder- ließ mit einem Tier, das sowohl eine Katze wie auch ein Hund hätte sein können – es war unmöglich festzustellen, worum es sich tatsächlich handelte. Er kam sich irgendwie lächerlich vor.
Sie saßen einfach nur da und warteten schweigend. Damson Rhee fing an, den pelzigen Rücken ihres Hasen zu streicheln. Coll saß wie versteinert da. Par wurde mit jeder Minute, die ereignislos verstrich, ungeduldiger.
Dann gingen die Lichter aus, nicht alle auf einmal, sondern eins nach dem anderen. Par wollte schon aufspringen, als Damson Rhee schnell sagte: »Bleib sitzen.«
Alle Lichter erloschen, bis auf eines. Das eine, das noch brannte, befand sich am Eingang des ersten Raumes, den sie betreten hatten. Es leuchtete in der Ferne, und der Lichtschein reichte kaum bis zu dem Tisch, an dem sie saßen. Par wartete darauf, daß sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten; als er wieder sehen konnte, stellte er fest, daß er auf ein rundliches, bärtiges Gesicht starrte, das auf der anderen Seite des Tisches zwei Stühle von Damson Rhee entfernt plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. Weit geöffnete Augen blickten ihn an, wandten sich dann in Richtung Coll, blinzelten und starrten weiter.
»Sei gegrüßt, Maulwurf«, sagte Damson Rhee.
Der Maulwurf hob fast unmerklich den Kopf; sein Nacken und seine Schulter wurden sichtbar, und seine Hände und Arme zeigten sich auf dem Tisch. Der Maulwurf war vollkommen mit Haar bedeckt, einem dunklen, pelzigen Mantel. Es wuchs auf jedem sichtbaren Fleckchen Haut, nur dort nicht, wo seine Nase, seine Wangen und ein Stückchen seiner Stirn wie Elfenbein im schwachen Lichtschein schimmerten. Sein runder Kopf wackelte, und seine kindlichen Finger waren in einer Geste der Zufriedenheit gefaltet. »Auch dir einen guten Abend, liebliche Damson«, sagte er.
Er sprach mit kindlicher Stimme, die jedoch irgendwie seltsam klang, so als käme sie aus einem hohlen Faß oder aus dem Wasser. Seine Augen blickten von Par zu Coll, dann von Coll zu Par. »Ich habe euch kommen hören und die Lichter für euch angemacht«, sagte er. »Aber ich mag die Lichter nicht so recht, und deshalb habe ich sie, da ihr jetzt da seid, wieder ausgemacht. Ist euch das recht?«
Damson Rhee nickte. »Ganz gewiß.«
»Wen hast du mir denn mitgebracht?«
»Talbewohner.«
»Talbewohner?«
»Zwei Brüder, aus einem Dorf im Süden, weit weg von hier. Par Ohmsford. Coll Ohmsford.«
Sie zeigte auf jeden, und die Augen sprangen von einem zum anderen. »Willkommen in meinem Heim. Wollen wir ein Täßchen Tee trinken?«
Er verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten, und bewegte sich dabei so lautlos, daß Par ihn, so sehr er sich auch bemühte, selbst in der absoluten Stille nicht hören konnte. Er roch den Tee, als er gebracht wurde, konnte ihn jedoch erst dann sehen, als die Tassen auf den Tisch gestellt wurden. Es waren zwei Tassen, eine normal große und eine winzige. Sie waren alt und die Farbe, mit der sie bemalt worden waren, verblichen und kaum noch zu sehen.
Unschlüssig beobachtete Par die Szene, während Damson Rhee dem Stoffhasen, den sie auf ihrem Schoß hielt, einen Schluck aus der winzigen Tasse anbot. »Sind alle Kinder wohlauf?« fragte sie höflich.
»Das kann man sagen«, antwortete der Maulwurf, der jetzt wieder auf dem Platz saß, den er zuerst belegt hatte. Er hielt einen großen Bären, dem er Tee aus seiner eigenen Tasse anbot. »Chalt, das muß ich leider sagen, war schon wieder unartig. Er hat am Tee und den Keksen genascht und das Leben hier empfindlich gestört. Immer wenn ich nach oben gehe, um mich durch die Straßengitter und Mauerritzen über die letzten Neuigkeiten zu informieren, glaubt er, er habe die Genehmigung, die Dinge hier nach seinem Gutdünken umzugestalten. Sehr ärgerlich.« Er warf dem Bären einen schrägen Blick zu. »Lida hatte schlimmes Fieber, aber es geht ihr wieder besser. Und Westra hat sich in die Pfote geschnitten.«
Par warf Coll einen Blick zu, und diesmal erwiderte sein Bruder seinen Blick.
»Jemand Neues in der Familie?«
»Everlind«, sagte der Maulwurf. Er sah sie einen Augenblick an und zeigte dann auf den Hasen, den sie auf dem Schoß hielt. »Sie gehört seit zwei Tagen zu unserer Familie. Es gefällt ihr hier sehr viel besser als auf der Straße.«
Par wußte kaum, was er davon halten sollte. Offensichtlich sammelte der Maulwurf den Müll der Menschen in der Stadt über ihm und brachte ihn in seinen Speicher. Für ihn waren die Tiere lebendig, oder er tat zumindest so. Par fragte sich voll Unbehagen, ob er das überhaupt unterscheiden konnte.
Der Maulwurf sah ihn an. »In der Stadt flüstert man sich Dinge zu, die die Föderation aufgebracht haben – Anschläge, Eindringlinge, eine Bedrohung ihrer Herrschaft. Die Straßenpatrouillen sind verstärkt worden, und die Torwachen halten jeden auf. Die Sicherheitsvorkehrungen werden verstärkt.« Er machte eine Pause und wandte sich dann an Damson Rhee. »Das Leben hier ist sehr viel angenehmer, liebliche Damson – hier, unter der Erde.«
Damson Rhee stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Die Anschläge sind ein Grund, warum wir hier sind, Maulwurf.«
Der Maulwurf schien sie nicht gehört zu haben. »Ja, es lebt sich besser, sicherer unter der Erde, unter den Straßen, dort, wohin die Föderation niemals einen Fuß setzt.«
Damson Rhee schüttelte energisch den Kopf. »Wir sind nicht gekommen, um Zuflucht zu suchen.«
Der Maulwurf blinzelte; in seinen Augen spiegelte sich Enttäuschung. Er stellte seine Tasse sowie das Tier, das er auf dem Arm hielt, beiseite und stützte seinen runden Kopf in die Hände. »Ich habe Everlind hinter dem Haus eines Mannes gefunden, der den Steuereintreibern der Föderation zur Hand geht. Er kann gut mit Zahlen umgehen und sehr viel besser rechnen als andere seines Faches. Einst war er als Berater für die Bewohner der Stadt tätig, aber sie konnten ihm nicht so viel bezahlen wie die Föderation, und deshalb hat er der Föderation seine Dienste angeboten. Den lieben langen Tag arbeitet er in dem Gebäude, wo die Steuergelder aufbewahrt werden; danach geht er nach Hause zu seiner Familie, zu seiner Frau und seiner Tochter, der Everlind einst gehörte. Letzte Woche brachte der Mann seiner Tochter ein neues Stofftier mit, mit seidigem weißen Fell und grünen Kulleraugen. Er bezahlte dafür mit dem Geld der Föderation, das diese eingetrieben hatte. Deshalb hat seine Tochter Everlind nicht mehr haben wollen. Das neue Tierchen war viel schöner anzusehen.« Er sah sie an. »Weder der Vater noch die Tochter begreifen, worauf sie verzichtet haben. Beide sehen nur das, was an der Oberfläche ist, und nichts von dem, was darunter liegt. Das ist die Gefahr, wenn man über der Erde lebt.«