»Du hast recht«, stimmte Damson Rhee leise zu. »Aber genau das müssen wir ändern, wenigstens diejenigen von uns, die auch weiterhin dort leben wollen.«
Der Maulwurf rieb sich wieder die Hände, wobei er seinen Blick auf ihnen ruhen ließ und scheinbar seinen eigenen Gedanken nachhing. Der Raum glich einem Stilleben, in dem der Maulwurf und seine Gäste inmitten des Mülls saßen und den Dingen lauschten, die möglicherweise das Raunen ihrer eigenen Leben waren.
Der Maulwurf sah wieder hoch, und seine Augen hielten Damson Rhee fest. »Liebliche Damson, weshalb bist du gekommen?«
Damson Rhee richtete sich auf und strich die Locken aus ihrem Gesicht. »Es gab einmal Stollen unter dem Palast der Könige von Tyrsis. Wenn sie immer noch dort sind, müssen wir hinein.«
Der Maulwurf erstarrte. »Unter dem Palast?«
»Unter dem Palast. Wir müssen in die Schlucht hinein.«
In der darauffolgenden langen Stille starrte der Maulwurf sie an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Fast unbewußt streckte er die Hände nach dem Tier aus, das er im Arm gehalten hatte. Er tätschelte es behutsam. »In der Schlucht gibt es Dinge, die aus der schwärzesten Nacht und dem schwärzesten Geist geboren sind«, sagte er leise.
»Schattenwesen«, sagte Damson.
»Schattenwesen? Ja, der Name paßt zu ihnen.«
»Hast du sie gesehen, Maulwurf?«
»Ich habe alles gesehen, was in dieser Stadt lebt. Ich bin das Auge der Erde.«
»Gibt es Stollen, die in die Schlucht hineinführen? Kannst du uns hinführen?«
Jeglicher Ausdruck wich aus dem Gesicht des Maulwurfs, als er sich in den Schatten zurücksinken ließ. Einen Augenblick glaubte Par, er sei gegangen. Aber er hatte sich nur versteckt, hatte sich in die Behaglichkeit der Dunkelheit zurückgezogen, um über das, worum er gebeten worden war, nachzudenken. Das Stofftier begleitete ihn, und das Mädchen und die Talbewohner blieben allein zurück, als wäre der kleine Kerl tatsächlich verschwunden. Geduldig und stumm warteten sie.
»Erzähl ihnen, wie wir uns kennengelernt haben«, sagte der Maulwurf plötzlich aus seinem Refugium heraus. »Erzähl ihnen, wie es war.«
Folgsam wandte sich Damson Rhee den Talbewohnern zu. »Ich ging eines schönen Abends in einem der Parks spazieren, nach Einbruch der Dunkelheit, als die Sterne langsam den Himmel erhellten. Es war Sommer; in der warmen Luft lag der Duft von Blumen und frischem Gras. Ich hatte mich gerade auf einer Bank niedergelassen, als der Maulwurf neben mich trat. Er hatte auf der Straße meine Vorstellung gesehen, hatte sich jedoch, während er zusah, in der Menge versteckt und bat mich, ein Kunststück nur für ihn vorzuführen. Ich führte mehr als eines vor. Er bat mich, in der nächsten Nacht wiederzukommen, und ich erfüllte seine Bitte, eine ganze Woche lang. Danach nahm er mich in sein unterirdisches Reich mit und zeigte mir sein Heim und seine Familie. So sind wir Freunde geworden.«
»Gute Freunde, liebliche Damson. Die besten Freunde.« Das Gesicht des Maulwurfs kam wieder zum Vorschein, löste sich aus dem Schatten. Die Augen waren ernst. »Du weißt, ich kann dir nichts abschlagen. Aber ich wünschte, du würdest mich nicht darum bitten.«
»Es ist wichtig, Maulwurf.«
»Du bist wichtig«, erwiderte der Maulwurf. »Ich habe Angst um dich.«
Sie streckte langsam die Hand aus und berührte seinen Handrücken. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
Der Maulwurf wartete, bis sie ihre Hand wegnahm, und ließ seine schnell unter dem Tisch verschwinden. Widerstrebend fuhr er fort: »Es gibt Stollen, die unter dem Palast der Könige von Tyrsis durch den Fels führen. Sie führen zu Kellern und Verliesen, an die sich keiner mehr erinnert. Einige führen in die Schlucht.«
Damson Rhee nickte. »Du mußt uns hinführen.«
Der Maulwurf zitterte. »Dunkle Wesen, Schattenwesen halten sich dort auf. Was passiert, wenn sie uns entdecken?«
Damson Rhee blickte zu Par hinüber. »Dieser Talbewohner gebietet auch über Magie, Maulwurf. Aber es handelt sich in seinem Fall nicht um Magie wie die meine, mit der man Kunststücke vorführen und die Menschen unterhalten kann, sondern um echte Magie. Er hat keine Angst vor den Schattenwesen. Er wird uns beschützen.«
Par spürte, wie sich sein Magen bei diesen Worten verkrampfte – Worte, mit denen ein Versprechen gegeben wurde, das er, wenn er ehrlich war, vielleicht nicht würde halten können.
Wieder ließ der Maulwurf seinen Blick auf ihm ruhen. Seine dunklen Augen blinzelten. »Also gut. Morgen werde ich in die Stollen gehen und feststellen, ob sie noch begehbar sind. Ihr könnt dann bei Nacht wiederkommen, und wenn der Zugang offen ist, werde ich euch hinführen.«
»Danke dir, Maulwurf«, sagte Damson Rhee.
»Trinkt euren Tee aus«, sagte der Maulwurf leise, ohne sie anzusehen.
Schweigend saßen sie in Gesellschaft der Stofftiere beisammen und taten wie geheißen. Es regnete immer noch, als sie das Labyrinth der unterirdischen Gänge und Abwässerkanäle verließen und durch die leeren Straßen der Stadt huschten. Damson Rhee ging voraus, ging mit sicherem Schritt durch den Nebel und die Feuchtigkeit, gleich einer Katze, der die Nässe nichts ausmachte. Sie führte die Talbewohner zu dem Schuppen hinter der Gärtnerei zurück und ließ sie dann allein, damit sie sich ausruhen konnten. Sie sagte, daß sie gegen Mittag wiederkommen werde. Sie wolle vorher noch ein paar Dinge erledigen.
Aber Coll und Par war nicht nach Schlaf zumute. Sie blieben wach, saßen an den Fenstern und sahen in den Nebel hinaus. Es war mittlerweile fast Morgen, und der Himmel im Osten hellte sich auf.
Im Schuppen war es kalt, und die Brüder wickelten sich in ihre Decken.
Lange Zeit sprach keiner von beiden. Schließlich ergriff Par, der seine Ungeduld nicht mehr länger beherr- schen konnte, das Wort: »Woran denkst du?«
Coll antwortete nicht.
»Denkst du an den Maulwurf?«
Coll seufzte. »Vielleicht.« Er verkroch sich unter seiner Decke. »Ich sollte mich eigentlich fürchten, wenn ich daran denke, daß ich mein Leben in die Hände eines Burschen lege, dessen Besitztümer aus Müll bestehen und dessen Gefährten Stofftiere sind, aber ich fürchte mich nicht. Ich kann nicht sagen, warum es so ist. Ich glaube, es hat damit zu tun, daß er keineswegs merkwürdiger erscheint als alle anderen, die unseren Weg gekreuzt haben, seit wir Varfleet verlassen haben. Er scheint mir nicht verrückter.«
Par erwiderte nichts. Es gab nichts, was er hätte sagen können, was nicht schon gesagt worden war. Er wußte um die Gefühle seines Bruders. Er wünschte, das Warten wäre vorbei und die Zeit gekommen, etwas zu unternehmen. Er haßte das Warten. »Coll, warum läßt du mich das nicht allein machen?« fragte er. Sein Bruder sah ihn an. »Ich weiß, wir haben das schon erörtert; du brauchst mich nicht daran zu erinnern. Aber warum läßt du mich nicht? Es gibt keinen Grund, warum du mitgehen solltest. Ich weiß, wie du über die Sache denkst. Vielleicht hast du recht. Du solltest hier bleiben und auf mich warten.«
»Nein.«
»Aber warum nicht? Ich kann allein auf mich aufpassen.«
Coll starrte ihn an. »Tatsache ist, daß du es nicht kannst«, sagte er ruhig. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Unglaube. »Ich glaube, das ist das Lächerlichste, was ich jemals aus deinem Mund gehört habe.«
Par lief vor Zorn rot an. »Nur weil…«
»Es hat während der ganzen Reise, oder wie man es nennen will, keinen einzigen Augenblick gegeben, in dem du nicht irgend jemand gebraucht hättest.« Colls dunkle Augen verengten sich. »Versteh mich nicht falsch. Ich will damit nicht sagen, daß du der einzige gewesen wärst. Wir haben alle Hilfe gebraucht, haben einander gebraucht. Die Sache ist die, daß es alle anderen erkennen und akzeptieren. Aber du versuchst ständig, alles allein zu machen und derjenige zu sein, der alles am besten weiß, der alle Antworten kennt, alle Möglichkeiten einschätzen kann und einen besonderen Einblick hat, der den anderen abgeht, der dir erlaubt zu entscheiden, was am besten ist. Du verschließt dich vor der Wahrheit. Weißt du was, Par? Der Maulwurf mit seiner Stofftierfamilie und seinem unterirdischen Versteck – du bist genau wie er. Ganz genau so. Du schaffst dir deine eigene Wirklichkeit – die Wahrheit oder das, was andere denken, kümmert dich nicht.« Er zog die Decke fest um sich. »Ich gehe mit, weil du genau das brauchst. Es ist nötig, daß ich dir den Unterschied zeige zwischen den Stofftieren und den echten.«