Walker Boh verlangsamte seinen Schritt und blieb schließlich stehen. Hinter dem Eingang lag nichts als Finsternis und Stille. Der Wind, dessen Rauschen ihm immer noch in den Ohren klang, hatte sich völlig gelegt. Der Nebel war verschwunden.
Das Gefühl, das Walker Boh in diesem Augenblick hatte, war unmißverständlich. Es umhüllte ihn wie eine zweite Haut, drang in seinen Körper ein, bis es seine Knochen erreicht hatte. Es war das Gefühl des Todes.
Er lauschte der Stille. Er wartete. Er versuchte die Welt um sich herum mit seinem Geist zu erfassen. Er entdeckte gar nichts.
Die Minuten verstrichen.
Schließlich schritt er entschlossen vorwärts. Es war Nachmittag im Westland, dort, wo die Tirfingebene sich südlich der sonnengetränkten Ufer des Mermidon erstreckte. Es war ein trockener Sommer gewesen, das Land war durch die Hitze verdorrt.
Wren Ohmsford saß mit dem Rücken an dem Stamm einer riesigen Eiche, nahe der Stelle, wo die Pferde aus dem trüben Gewässer tranken, und beobachtete, wie die Sonne gleich einem Feuerball am westlichen Himmel versank. Ihr Glanz blendete sie und ließ sie nichts von dem erkennen, was auf sie zukam, weshalb sie schützend die Hände über die Augen legte. Es war eine Sache, wenn Garth sie bei einem Nickerchen ertappte; viel schlimmer jedoch war es, unachtsam zu sein gegenüber dem, der sie verfolgte.
Gedankenverloren schürzte sie die Lippen. Vor mehr als zwei Tagen hatten sie entdeckt, daß sie verfolgt wurden – besser gesagt, sie hatten es gespürt, da derjenige, der sie verfolgte, sorgsam darauf bedacht war, sich nicht zu zeigen. Er oder sie oder es – sie wußten es immer noch nicht. An diesem Morgen wollte Garth es herausfinden, nachdem er zuvor seine grellen Kleider abgelegt, erdfarbene Leinengewänder angezogen und sein Gesicht sowie seine Haare dunkler gefärbt hatte.
Wer ihnen auch folgte, er mußte sich auf eine unangenehme Überraschung gefaßt machen.
Aber der Tag neigte sich dem Ende zu, und der Fahrende war noch nicht zurückgekehrt. Ihr Schatten war möglicherweise klüger, als sie angenommen hatten. Was kann er wollen? grübelte sie.
Ihr Blick wanderte zu der großen Ebene im Osten. Es war beunruhigend genug, auf diese Weise verfolgt zu werden. Noch beunruhigender war es zu erkennen, daß die Verfolgung irgend etwas mit ihren Nachforschungen nach den Elfen zu tun hatte.
Sie seufzte, verärgert über den Lauf der Dinge. Die Begegnung mit dem Geist von Allanon hatte sie durcheinandergebracht; sie war nicht nur unzufrieden mit dem, was sie gehört hatte, sondern zudem nicht sicher, was sie unternehmen sollte. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, daß das, was der Geist von ihr verlangte, unmöglich war. Aber irgend etwas in ihrem Inneren, dieser sechste Sinn, auf den sie sich gern verließ, flüsterte ihr zu, daß Druiden schon immer mehr gewußt hatten als Sterbliche, daß ihre Warnungen und die Aufgaben, die sie den Menschen erteilten, immer einen Wert gehabt hatten. Par vertraute darauf. Er hatte sich höchstwahrscheinlich schon längst auf die Suche nach dem verschwundenen Schwert von Shannara begeben. Und obwohl Walker Boh wutentbrannt davongestürmt war, gar geschworen hatte, daß er sich nie mit den Druiden einlassen werde, war sein Zorn sicher vergangen. Er war ein zu rationaler und beherrschter Mensch, als daß er die Sache so leicht abgetan hätte. Genau wie sie würde er sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen.
Wehmütig schüttelte sie den Kopf. Eine Zeitlang hatte sie geglaubt, ihre Entscheidung sei unwiderruflich. Sie hatte sich eingeredet, daß sie sich von ihrem gesunden Menschenverstand leiten lassen müsse, war daraufhin mit Garth zu ihren Leuten zurückgekehrt und hatte Allanon und die verschwundenen Elfen aus ihrem Gedächtnis verbannt.
Aber die Zweifel wollten nicht weichen, dieses nagende Gefühl, daß irgend etwas an ihrem Vorsatz, die Sache nicht weiter zu verfolgen, nicht richtig war. Sie hatte daraufhin fast widerwillig begonnen, Fragen über die Elfen zu stellen. Es war ihr nicht schwer gefallen; die Fahrenden durchwanderten im Laufe eines Jahres das Westland von einem Ende zum anderen. Es gab immer neue Menschen, mit denen man sich unterhalten konnte. Welchen Schaden hätten sie nehmen sollen, wenn sie sich nach den Elfen erkundigte?
Manchmal hatte sie ihre Fragen ernst gestellt, manchmal im Scherz. Aber die Antworten, die sie erhalten hatte, waren alle gleich. Die Elfen waren verschwunden, und zwar schon zu einer Zeit, an die sich keiner mehr erinnern konnte, noch vor der Zeit ihrer Großväter und Großmütter. Keiner hatte jemals einen Elfen zu Gesicht bekommen. Die meisten waren sich nicht sicher, daß es jemals welche gegeben hatte.
Aus den Augenwinkeln gewahrte sie eine Bewegung, einen Schatten in der Schwüle der Ebene, worauf sie sich vorsichtig erhob. Regungslos verharrte sie unter der Eiche, während der Schatten Gestalt annahm und sich in Garth verwandelte. Der Fahrende, dem der Schweiß über den muskulösen Körper lief, kam auf sie zu. Er schien nicht einmal außer Atem; er glich einer niemals müde werdenden Maschine, der selbst die sengende sommerliche Hitze nichts anhaben konnte. Er machte ein kurzes Zeichen, schüttelte den Kopf. Wer sie auch verfolgte, er war ihm entkommen.
Wren bückte sich und reichte ihm den Wasserschlauch. Während er trank, lehnte sie ihren schlanken Körper gegen die rauhe Rinde der Eiche und starrte hinaus auf die leere Ebene. In einer unbewußten Bewegung fuhr ihre Hand nach oben, um den kleinen ledernen Beu- tel zu berühren, den sie um den Hals trug. Gedankenverloren ließ sie den Inhalt durch ihre Finger gleiten. Die magischen Steine. Was für ein Glück würden sie ihr jetzt bringen?
Ihr sonnengebräuntes Gesicht drückte Entschlossenheit aus, als sie ihr Unbehagen beiseite schob. Sie schätzte es nicht, wenn man sie verfolgte, und sie war entschlossen, dieser Verfolgung ein Ende zu machen. Sie würden ihre Reiseroute ändern, ihre Spuren beseitigen, ein- oder zweimal umkehren, die ganze Nacht reiten, sofern dies notwendig werden sollte, und damit ihren Schatten ein für allemal abschütteln. Vorsichtig trat Walker Boh in die Halle der Könige, zwischen den riesigen steinernen Wächtern, die den Eingang der Höhle bewachten, in die dahinterliegende Finsternis. Hier blieb er stehen, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er gewahrte Licht, ein grünliches Leuchten, das von den Felsen ausging. Er würde also keine Fackel anzünden müssen, um seinen Weg zu finden.
Einen Augenblick sah er ein Bild der Höhlen vor seinem geistigen Auge, eine Nachbildung dessen, was er zu sehen erwartete. Cogline hatte sie ihm vor langer Zeit auf Papier aufgezeichnet. Der alte Mann war nie selbst in den Höhlen gewesen, aber andere Druiden sehr wohl, darunter auch Allanon, und Cogline hatte die Karten studiert, die sie gezeichnet hatten, und seinen Schülern deren Geheimnisse offenbart. Walker war zuversichtlich, daß er den Weg finden würde.
Er ging los.
Der Gang war breit und glatt, und weder zu seinen Füßen noch an den Wänden sah er scharfkantige Vorsprün- ge oder Ritzen. In der fast vollkommenen Dunkelheit herrschte ein Schweigen, in dem nur das schwache Echo seiner Schritte zu hören war. Die Luft ließ ihn frösteln; sie strahlte eine Kälte aus, die seit Jahrhunderten in dem Felsgestein lagerte und durch nichts zu vertreiben war. Unerfreuliche Gefühle beschlichen ihn – Einsamkeit, Sinnlosigkeit. Die Höhlen gaben ihm zudem das Gefühl, winzig klein zu sein; sie machten ihn zum Nichts, zu einer Kreatur, deren bloße Anwesenheit an diesem uralten, verbotenen Ort einer Beleidigung gleichkam. Er kämpfte gegen die Gefühle an, da er begriff, wie verwundbar sie ihn machten.
Bald darauf erreichte er die Höhle der Sphinxe. Wieder blieb er stehen, dieses Mal, um sich tief drinnen, wo die steinerne Macht ihn nicht erreichen konnte, zu sammeln. Als er bereit war, schritt er vorwärts. Er hielt seine Augen auf den staubigen Boden gerichtet.