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Im Geiste sah er, wie die Sphinxe drohend über ihm aufragten, riesige steinerne Gestalten, die von der gleichen Hand geschaffen waren wie die Wächter. Die Sphinxe, so hieß es, hatten menschliche Gesichter, aber die Leiber von Tieren, die aus einem anderen Zeitalter stammten und die kein lebendiges Wesen je zu Gesicht bekommen hatte. Sie waren alt, so unbeschreiblich alt, daß eines ihrer Leben Hunderten von Leben sterblicher Menschen gleichkam. So viele Monarchen hatten unter ihrem Blick regiert, um dann in ihren Felsengräbern zur ewigen Ruhe gebettet zu werden.

»Sieh uns an«, flüsterten sie. »Schau, wie herrlich wir sind!«

Er spürte ihre Augen auf sich ruhen, hörte das Flüstern ihrer Stimmen in seinem Geist, fühlte, wie sie an den Schutzschichten, die er um sich gelegt hatte, zogen und zerrten, während sie ihn anflehten, den Blick zu heben. Er bewegte sich jetzt schneller, mühte sich, das Geflüster zu verscheuchen, widerstand dem Drang, ihnen zu gehorchen. Die steinernen Bestien schienen ihn anzubrüllen.

»Walker Boh! Sieh uns an! Du mußt!«

Er kämpfte sich vorwärts, während ihre Stimmen seinen Geist bedrängten und seine Vorsätze schwanden. Trotz der Kälte rann Schweiß über sein Gesicht, und seine Muskeln verspannten sich bis zum Schmerz. Er knirschte mit den Zähnen, tadelte sich ob seiner Müdigkeit, und plötzlich kam ihm die bittere, verzweifelte Erinnerung, daß Allanon schon vor ihm hier gewesen war und mit ihm sieben Männer, die sich seinem Schutz anvertraut hatten, und daß der Druide standgehalten hatte.

Schließlich hielt auch er stand. Gerade, als das Gefühl in ihm hochkroch, daß er es nicht schaffen würde, daß er aufgeben mußte, erreichte er das andere Ende der Höhle und trat in den dahinterliegenden Gang. Die Flüsterstimmen verklangen, bis sie nicht mehr zu hören waren. Er blickte nach oben, widerstand jedoch dem Drang, sich umzusehen, und schritt erneut vorwärts.

Der schmäler werdende Gang wand sich nach unten. Im Gefühl der Unsicherheit darüber, was hinter den dunklen Ecken möglicherweise auf ihn lauerte, verlangsamte er seinen Schritt. Das grünliche Licht strahlte nur an wenigen Stellen von der Felswand ab, und der Gang schien erfüllt von Schatten. Er war gewiß, daß irgend etwas, dessen Gegenwart er mit jedem Schritt mehr spürte, nur darauf wartete, ihn anzugreifen. Einen Augenblick zog er die Möglichkeit in Betracht, den Gang mit Hilfe seiner Magie zu erhellen, um zu sehen, was sich vor ihm versteckte; er verwarf sie ebenso schnell wieder. Wenn er die Magie beschwor, würde er lediglich preisgeben, daß er über eine besondere Macht verfügte. Es schien ihm besser, dieses Geheimnis zu bewahren. Die Magie war eine Waffe, mit der er sehr viel mehr erreichen konnte, wenn er sie unerwartet einsetzte.

Doch nichts zeigte sich. Mit einem Achselzucken schüttelte er sein Unbehagen von sich ab und ging weiter, bis sich der Gang, der jetzt ziemlich gerade verlief, allmählich verbreiterte.

Dann hörte er das Geräusch.

Obwohl er wußte, daß es ganz plötzlich losbrechen würde, war er, als es soweit war, nicht vorbereitet. Es stürzte auf ihn nieder, umschlang ihn wie mit eisernen Armen und zerrte ihn vorwärts. Er hörte das Toben der Winde durch den Gang, das Heulen der Sturmwinde in der Ebene, das Schlagen der Wellen gegen die Felsen am Ufer. Und darunter vernahm er die grausigen Schreie der gemarterten Seelen, deren Gebeine sich an den Höhlenwänden rieben.

Von Panik erfaßt, versuchte Walker Boh seine Widerstandskraft zu mobilisieren. Er befand sich im Gang der Winde, wo die Banshies sich auf ihn stürzten. Augenblicklich schottete er sich gegen alles um sich herum ab, wehrte sich mit solcher Willensstärke gegen die entsetzlichen Laute, daß er hin- und hergeworfen wurde, ließ nur eine einzige Vorstellung in seinem Kopf existieren – die Vorstellung von sich selbst. Indern er das Bild im Geist ausschmückte, konnte er Leben, Kraft und Entschlossenheit sammeln. Er zwang sich weiterzugehen. Es gelang ihm, die Schreie der Banshies abzuwehren, bis sie zu einem seltsamen Summen herabsanken, das an ihm zerrte und riß und verzweifelt versuchte, zu ihm durchzudringen. Er gewahrte, wie er den Gang der Winde langsam hinter sich ließ, eine kahle und leere Höhle, in der alles unsichtbar war. Nur das Wehklagen war da gleich schillernden Kaskaden, die durch die Finsternis stoben.

Nichts, was Walker Boh tat, konnte die Wirkung der Schreie mildern. Sie setzten ihm weiterhin zu, malträtierten seinen Körper, als wären sie lebendige Wesen. Er spürte, wie seine Kräfte schwanden, genau wie zuvor, als die Sphinxe sich auf ihn gestürzt hatten und sein Widerstand erlahmt war. Die Stärke des Angriffs war erschütternd. Er kämpfte dagegen an, obwohl ihn Verzweiflung beschlich, als er sah, wie das Bild, an dem er sich festgehalten hatte, anfing zu flimmern, um dann zu verschwinden. Er verlor langsam die Kontrolle. In einer Minute würde er vollkommen schutzlos sein.

Und dann geschah es abermals: Er trat genau in dem Augenblick aus dem Gang der Winde hinaus, als er glaubte, nicht mehr widerstehen zu können. Er stolperte in eine kleine Höhle, die sich an den Gang anschloß. Die Schreie der Banshies verklangen. Er glitt, am ganzen Körper zitternd, zu Boden. Er atmete langsam ein und aus, bis es ihm gelang, das Entsetzen abzuschütteln. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein, und er schloß kurz die Augen.

Als er sie wieder öffnete, blickte er auf zwei riesige Steintüren, die durch eiserne Scharniere mit dem Felsen verbunden waren. In die steinernen Türen waren Runen gehauen, uralte Zeichen, die feuerrot leuchteten.

Er hatte die Rotunda erreicht, das Grabmal der Könige der Vier Länder.

Er erhob sich, schulterte seinen Rucksack und ging auf die Türen zu. Einen Augenblick betrachtete er die Zei- chen, legte eine Hand vorsichtig an den Stein und drückte. Die Türflügel öffneten sich, und er trat hinein.

Er befand sich in einer riesigen, kreisrunden Höhle, die von grünlichem Licht erhellt wurde. Versiegelte Grabkammern säumten die Wand; die darin liegenden Toten waren durch Mörtel und Stein für immer vor den Augen aller verborgen. Davor standen, feierlich und zeitlos, Statuen, die die Herrscher bewachten. Vor jeder Statue waren die Reichtümer des Toten aufgehäuft – Truhen voll kostbarer Juwelen, Pelze, Waffen und Schätze aller Art. Sie waren vollkommen verstaubt und kaum zu erkennen. Die Wände des Grabmals türmten sich zu allen Seiten so hoch auf, daß sie dort, wo die Decke gleich einem undurchdringlichen schwarzen Gewölbe auf ihnen ruhte, in der Finsternis verschwanden.

Das Grabmal schien bar allen Lebens.

Am anderen Ende der Halle befanden sich wieder zwei verschlossene Türen. Hinter diesen Türen hatte einst der Drache Valg gehaust. Dort lag der Scheiterhaufen der Toten, ein Altar, auf dem die hingeschiedenen Herrscher der Vier Länder vor ihrer Verbrennung während einer festgelegten Anzahl von Tagen aufgebahrt waren. Von dem Altar führte eine steinerne Treppe hinunter zu dem See, in dem sich der Drache versteckte. Angeblich hielt er die Totenwache. Es hätte Walker Boh keineswegs verwundert, wenn der Drache die Leichen verschlungen hätte.

Einen Augenblick lauschte er, um zu hören, ob sich irgend etwas bewegte oder atmete. Er hörte nichts. Er ließ seinen Blick durch das Grabgewölbe schweifen. Der schwarze Elfenstein befand sich hier, nicht in der dahinterliegenden Höhle. Wenn er schnell und vorsichtig genug war, mußte er möglicherweise gar nicht herausfinden, ob der Drache noch am Leben war oder nicht.

Er schob sich geräuschlos an den Grabkammern der Toten, ihren Statuen und ihren Reichtümern vorbei. Er schenkte den Schätzen keine Beachtung; von Cogline wußte er, daß sie mit einem Gift überzogen waren, das jeden, der es berührte, augenblicklich tötete. Während er seinen Weg fortsetzte und seinen Blick über die Felswände und die eingehauenen Runen schweifen ließ, machte er einen großen Bogen um jede Grabstätte. Als er seinen Rundgang beendet hatte, befand er sich wieder an der Stelle, von der er ausgegangen war.