Morgan sah sich nach Padishar Creel um, doch der Anführer der Geächteten war verschwunden. Kurz hielt er es für möglich, daß jener gefallen war. Der Regen rann über seine Stirn in seine Augen, und ungeduldig schüttelte er das Wasser ab. Seine Hand hielt den Knauf seines Breitschwertes fest umklammert, doch er verharrte noch immer unschlüssig.
Schritt für Schritt bewegte sich der Kriecher vorwärts, während er gleichzeitig nach links und rechts schielte, um sich vor möglichen Angriffen zu schützen. Ein einziger Schlag mit seinem Schwanz reichte aus, um mehrere Männer durch die Luft zu wirbeln. Speere und Pfeile flogen auf ihn zu und prallten an ihm ab. Stetig drang er weiter vor, wodurch die Verteidiger immer näher an die Höhlen gedrängt wurden. Bald würden sie keine Möglichkeit mehr haben, ihm auszuweichen.
Morgan Leah zitterte. »Tu etwas!« schrie es in seinem Kopf.
Im gleichen Augenblick erschien Padishar Creel in der Öffnung der größten Höhle und schrie seinen Männern zu, sich zurückzuziehen. Etwas Riesiges rumpelte quietschend und knarrend hinter ihm hervor. Zahlreiche Männer zerrten an Seilen, und das Ding nahm langsam Gestalt an. Als es aus dem Höhleneingang heraustrat und ins Licht kroch, konnte Morgan es endlich erkennen. Es war eine riesige hölzerne Armbrust.
Padishar Creel befahl den Männern, die sie zogen, sie gegenüber dem Kriecher in Stellung zu bringen. Obenauf stand Chandos, der mit Hilfe einer schweren Winde die Armbrustsehne zurückzog.
Der Kriecher zögerte, so als wolle er die Gefahr, die ihm von dieser neuen Waffe drohte, abschätzen. Doch dann kam er weiter auf sie zu.
Padishar Creel befahl, den ersten Pfeil abzufeuern, als die Bestie noch zwanzig Meter entfernt war. Der Pfeil flog in hohem Bogen zur Seite. Der Kriecher beschleunigte sein Tempo, während Chandos in aller Eile die Armbrustsehne erneut zurückzog. Wieder wurde ein Pfeil abgeschossen. Der Kriecher wurde mit solcher Wucht getroffen, daß er zur Seite fiel und einen Augenblick liegen blieb, ehe er sich wieder aufrichtete und seinen Weg fortsetzte.
Morgan erkannte, daß keine Zeit blieb für einen dritten Schuß. Der Kriecher war bereits zu nahe. Trotzdem blieb Chandos auf der Armbrust stehen und versuchte verzweifelt die Sehne ein drittes Mal zurückzuziehen. Der Kriecher war bereits bis auf wenige Schritte herangekommen. Von allen Seiten hieben jetzt Geächtete und Trolle mit Äxten und Schwertern auf ihn ein, aber er ließ sich nicht aufhalten. Er hatte begriffen, daß die Armbrust die einzige Waffe war, die ihm wirklich gefährlich werden konnte, und machte sich nun eiligst an deren Zerstörung.
Chandos legte den dritten Pfeil auf die Sehne und streckte die Hand nach dem Abzug aus. Er schaffte es nicht. Der Kriecher holte aus, traf die Armbrust von oben und zertrümmerte sie. Das Holz splitterte in tausend Stücke, und die Räder, auf der die Waffe ruhte, brachen zusammen. Chandos wurde heruntergeschleudert. Schreiende Männer suchten verzweifelt das Weite. Der Kriecher drehte sich auf dem Trümmerhaufen herum. Seine Bewegungen waren bedächtig, da er spürte, daß er ge- siegt hatte, und wußte, daß er nur noch einmal zuschlagen mußte, um sein Zerstörungswerk zu vollenden.
Aber Padishar Creel war schneller. Während die anderen Geächteten flohen, Chandos bewußtlos dalag und Morgan weiter mit seiner Unentschlossenheit kämpfte, ging Padishar Creel zum Angriff über. Kaum mehr als ein roter Fleck in der regennassen Dämmerung, ergriff der Anführer der Geächteten einen der Armbrustpfeile, der aus dem Köcher gefallen war, tauchte blitzschnell unter den Kriecher und rammte das hintere Ende des Pfeils senkrecht in die Erde. Der Kriecher, der eifrig damit beschäftigt war, die Armbrust zu zerstören, bemerkte ihn nicht, sondern ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf die bereits schwer beschädigte Waffe fallen und damit auf die eiserne Pfeilspitze. Die Wucht, mit der sich die Bestie auf die Armbrust warf, trieb die Pfeilspitze auf einer Seite ihres Körpers hinein und auf der anderen Seite heraus. Padishar Creel gelang es gerade noch rechtzeitig, sich zur Seite zu wälzen, bevor die Bestie zusammenkrachte.
Das vor Schmerz und Überraschung bebende Monster bäumte sich auf. Es wand sich verzweifelt, um den tödlichen Pfeil loszuwerden, bis es schließlich das Gleichgewicht verlor, zusammensackte und mit dem Bauch nach oben liegen blieb.
»Es lebe die Freiheit!« schrie Padishar Creel, und die Geächteten und die Trolle machten sich über den Kriecher her. Stücke der Bestie flogen durch die Luft, als Schwerter und Äxte auf sie niedersausten. Die zweite Klaue wurde abgetrennt.
Obwohl der Kriecher schwer verletzt am Boden lag, war er immer noch gefährlich. Männer, die unter ihm eingequetscht wurden, wurden augenblicklich zermalmt, andere durch die Luft geworfen, wenn er sich aufbäumte, oder von seinen Klauen in Stücke gerissen. Alle Anstrengungen, ihm den Garaus zu machen, waren erfolglos, bis schließlich ein Pfeil durch das Auge des Monsters in sein Gehirn gerammt wurde. Ein letztes Zucken ging durch den Körper des Kriechers, bevor er leblos liegen blieb.
Morgan Leah verfolgte das Geschehen wie aus weiter Ferne. Als der Kampf zu Ende war, stand er immer noch zitternd da. Er war in Schweiß gebadet und die ganze Zeit über unfähig gewesen, auch nur einen Finger zu bewegen. Danach ging im Lager der Geächteten eine tiefe Veränderung vor sich, die in der wachsenden Überzeugung zum Ausdruck kam, daß der Zeigefinger nicht länger uneinnehmbar war. Padishar Creel verfiel in die schlechteste aller Stimmungen, beschimpfte alles und jeden und ließ seinem Zorn darüber, daß die Föderation einen Kriecher eingesetzt hatte, daß die Wachen ihre Pflicht verletzt hatten und daß ganz besonders er selbst nicht ausreichend vorbereitet gewesen war, freien Lauf. Seine Männer gingen verdrießlich ihrer Arbeit nach. Wenn die Föderation in der Lage war, einen Kriecher auf sie zu hetzen, was sollte sie dann davon abhalten, einen zweiten loszuschicken? Und wenn ein zweiter losgeschickt wurde, womit sollten sie ihn dann aufhalten? Und was sollten sie tun, falls die Föderation eine noch schlimmere Bestie auf sie hetzte?
Achtzehn Männer hatten im Kampf ihr Leben gelassen, und zweimal so viele waren verwundet, von denen einige schwerlich den nächsten Tag erleben würden. Padishar Creel ließ die Toten am Rande der Anhöhe begraben und die Verwundeten in die größte Höhle schaffen, die nun als Krankenrevier dienen mußte. Die Schreie der Verwundeten und Sterbenden hingen in der Stille des frühen Morgens.
Der Kriecher wurde zum Rand der Anhöhe geschleppt und in den Abgrund geworfen. Es war eine anstrengende Arbeit, aber Padishar Creel war nicht gewillt, die Anwesenheit der Bestie auf der Anhöhe auch nur eine Sekunde länger als notwendig zu ertragen. Mit Seilen und Flaschenzügen machten sie sich an die Arbeit; die Seile, deren Enden am Rumpf des toten Monsters befestigt waren, wurden von Dutzenden von Männern ergriffen, die zogen und zerrten, um den Kriecher Schritt für Schritt durch das zerstörte Lager zu schleifen. Die Arbeit nahm den ganzen Morgen in Anspruch. Morgan hatte sich ihnen angeschlossen, sprach jedoch mit niemandem ein Wort und gab sich die größte Mühe, nicht aufzufallen, während er sich immer noch abmühte zu begreifen, was mit ihm geschehen war.
Schließlich begriff er es. Es war das Schwert von Leah, das für seinen Zustand verantwortlich war, erkannte er plötzlich – oder genauer gesagt, die Magie, die es enthalten hatte. Es war der Verlust der Magie, der ihn gelähmt hatte und für seine Unentschlossenheit und Angst verantwortlich war. Als er die Zauberkraft des Schwertes entdeckt hatte, hatte er sich für unverwundbar gehalten. Dieses Gefühl der Macht ließ sich mit keinem anderen Gefühl, das er irgendwann empfunden oder das er überhaupt für möglich gehalten hatte, vergleichen. Mit der Macht, die ihm damit zur Verfügung stand, konnte er alles erreichen. Er konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, als er den Schattenwesen in der Schlucht buch- stäblich allein gegenübergetreten war. Herrlich. Aufregend. Aber gleichzeitig anstrengend. Jedesmal, wenn er diese Macht anrief, schien er einen Teil seiner eigenen Kraft einzubüßen.