Mehr als eine Wache lang durchwateten wir diesen Wasserlauf inmitten eines Waldes gleich jenem, den Jonas und ich nach der Trennung von Dorcas, Dr. Talos und den übrigen am Erbärmlichen Tor durchwandert hatten. Dann wurden die Ufer höher und zerklüfteter, die Bäume niedriger und verkrüppelt. Steine hemmten den Strom; ihre eckige Form verriet, daß sie Menschenwerk und wir in der Gegend der Erzgruben mit dem Trümmerfeld einer großen Stadt darunter waren. Unser Weg wurde steiler, und trotz allen Eifers zauderte der Renner zuweilen an glitschigen Stellen, so daß ich absteigen und ihn führen mußte. Auf diese Weise zogen wir durch verschiedene, kleine, verträumte Höhlungen im Dunkel der hohen Ufer, worin hie und da fahles Mondlicht ausgebreitet lag und worin das Geplätscher des Wassers widerhallte – aber kein Laut sonst, denn im übrigen herrschte vollkommene Stille.
Zuletzt drangen wir in ein Tal vor, das kleiner und schmaler als alle anderen war; an seinem Ende, eine Kette oder so entfernt, wo der Mond einen Steilhang beschien, entdeckte ich eine dunkle Öffnung. Darin hatte der Bach, der wie Speichel von den Lippen eines versteinerten Titanen hervorsprudelte, seinen Ursprung. Neben dem Wasser fand ich ein Stück einigermaßen flachen Bodens, auf dem mein Reittier rasten konnte. Mit einiger Mühe vermochte ich es dort anzubinden, indem ich die Zügelreste um ein verkümmertes Bäumchen knüpfte.
Sicherlich hatte einst ein Holzgerüst zum Mineneingang hinaufgeführt, aber es war längst verfault und vermodert. Obschon der Aufstieg im Mondschein unmöglich schien, fand ich Halt in dem alten Gestein und erklomm die Wand neben dem herabschießenden Wasserstrahl.
Kaum hatte ich die Hände in der Öffnung, hörte ich –oder glaubte zu hören – ein Geräusch aus dem Tal hinter mir. Ich hielt inne und wandte mich zurückschauend um. Das Getöse des Wasserfalls hätte jeden Laut erstickt, der nicht so stimmgewaltig wie ein Signalhorn oder durchschlagend wie eine Explosion gewesen wäre, und es hatte auch diesen erstickt, obwohl ich etwas gewahrt hatte, das sich vielleicht anhörte wie polterndes Gestein oder etwas ins Wasser Plumpsendes.
Das Tal lag anscheinend friedlich und still unter mir. Dann bemerkte ich, wie mein Renner sich umstellte, wobei sein stolzer Kopf und die nach vorne gerichteten Ohren für einen Augenblick ins Licht tauchten. Ich kam zu dem Schluß, was ich gehört hatte, war lediglich das Klappern seiner eisenbeschlagenen Hufe gewesen, denn er stampfte widerspenstig mit den Füßen, weil er so eng angebunden war. Ich stemmte mich vollends in den Mineneingang und rettete mir damit, wie sich herausstellen sollte, das Leben.
Ein einigermaßen besonnener Mensch, der wie ich in dem Wissen, einen solchen Ort betreten zu müssen, ausgezogen wäre, hätte eine Laterne und Kerzen in ausreichender Menge mitgebracht. Daß Thecla noch lebe, hatte mich jedoch mit solcher Tollheit erfüllt, daß ich mit leeren Händen aufgebrochen war. Somit kroch ich in die Dunkelheit hinein, und ich hatte noch keine zwölf Schritte zurückgelegt, als das Mondlicht des Tales hinter mir erlosch. Mit den Stiefeln watete ich durch den Wasserlauf wie draußen, als ich den Renner stromaufwärts geführt hatte. Terminus Est baumelte von meiner linken Schulter, doch war ich ohne Sorge, daß die Spitze der Scheide im Wasser naß würde, denn die Decke des Stollens war so niedrig, daß ich tief geduckt gehen mußte. So schritt ich eine ganze Weile voran, von der ständigen Furcht geplagt, ich sei falsch gegangen und Thecla warte auf mich woanders und würde umsonst warten.
VI
Blaues Licht
Ich gewöhnte mich so an das Rauschen des eisigen Wassers, daß ich, wäre ich gefragt worden, behauptet hätte, es herrschte Stille; aber dem war nicht so, was mir sofort auffiel, als der enge Stollen in eine große, ebenso finstere Kammer mündete, wo das Murmeln des Baches anders klang. Ich tat noch einen Schritt, dann noch einen und hob den Kopf. Über mir war kein kantiges Gestein mehr, woran ich ihn mir hätte anschlagen können. Ich streckte die Arme empor. Nichts. Ich nahm Terminus Est am Heft aus Onyx und schwang die Klinge, die noch in der schützenden Scheide steckte. Immer noch nichts.
Dann tat ich etwas, das ihr, die ihr diesen Bericht lest, sicherlich für töricht halten werdet, obschon ihr bedenken müßt, daß ich in dem Wissen gehandelt habe, die angeblichen Wächter dieser Mine seien von meiner Ankunft in Kenntnis gesetzt und angewiesen, mir kein Haar zu krümmen. Ich rief Theclas Namen.
Und das Echo antwortete: »Thecla … Thecla … Thecla …«
Dann herrschte wieder Stille.
Mir fiel ein, daß ich dem Wasserlauf bis zu seiner Quelle im Gestein folgen sollte, was ich noch nicht getan hatte. Vielleicht sickerte es hier durch ebenso viele Gänge unter dem Berg wie draußen durch Schluchten. Ich ging also weiter und tastete mich Schritt für Schritt vorwärts, von der Furcht gehemmt, daß ich schon beim nächsten Schritt ins Leere treten würde.
Ich hatte noch keine fünf zurückgelegt, als ich neben dem Plätschern des nun ruhig fließenden Wassers von weit her, dennoch deutlich, etwas hörte. Ich war keine weiteren fünf vorangekommen, als ich Licht sah.
Es war weder der smaragdgrüne Widerschein der legendären Wälder des Mondes noch ein solches Licht, wie Wächter es trügen – die rote Flamme einer Fackel, der goldene Schein einer Kerze, nicht einmal der grelle Kegel, den ich zuweilen nachts gesehen hatte, wenn die Flieger des Autarchen über die Zitadelle brausten. Vielmehr war es ein leuchtender Nebel, der bald farblos, bald von einem schmutzigen, gelblichen Grün schien. Ich hatte keine Ahnung, wie weit die Erscheinung entfernt war. Jedenfalls schien sie keine bestimmte Form zu haben. Eine Zeitlang schimmerte das Licht vor meinen Augen, und ich hielt –nach wie vor dem Strom folgend – darauf zu. Dann gesellte sich ein zweites hinzu.
Es fällt mir schwer, mich auf die Ereignisse der folgenden Minuten zu konzentrieren. Wohl jeder birgt in seinem Unterbewußtsein gewisse Schreckensmomente, wie unsere Oubliette im tiefsten bewohnten Geschoß jene Klienten birgt, deren Verstand vor langer Zeit lahmgelegt oder in ein nicht mehr menschliches Bewußtsein umgewandelt worden war. Gleichsam wie diese kreischen solche Erinnerungen auf und klirren mit den Ketten gegen die Wände, werden jedoch selten so hoch gebracht, um ins Tageslicht zu kommen.
Was ich in diesem Berg erlebt habe, bleibt mir, wie diese uns geblieben sind: etwas, das ich in den tiefsten Winkeln meines Geistes aufzuspüren trachte, dessen ich aber nur hin und wieder gewahr werde. (Vor nicht allzu langer Zeit, als die Samru noch in der Nähe der Gyoll-Mündung lag, blickte ich bei Nacht über die Heckreling; dort betrachtete ich die eintauchenden Ruder, von denen jedes wie eine Flamme phosphoreszierenden Feuers wirkte, und dachte schon, jene vom Innern des Berges seien gekommen, um mich endlich zu holen. Zwar unterstehen sie mir nun, aber das ist mir kein großer Trost.)
Dem Licht, das ich gesehen hatte, gesellte sich, wie gesagt, ein zweites hinzu, den zweien ein drittes, den dreien ein viertes, und ich ging immer noch weiter. Bald konnte ich die Lichter nicht mehr zählen; nicht wissend, worum es sich handle, erleichterte mich der Anblick, denn ich stellte mir vor, das Funkeln rühre von einer Art Fackel her, die mir unbekannt war, einer Fackel in der Hand der Wächter, die im Brief angekündigt waren. Als ich weitere zwölf Schritte gegangen war, sah ich, wie die Lichtflecken zu einer Form verschmolzen, zur Form einer auf mich gerichteten Speer- oder Pfeilspitze. Dann vernahm ich sehr schwach ein solches Gebrüll, wie ich es oft vom Turm namens Bär gehört hatte, wenn die Raubtiere gefüttert wurden. Sogar jetzt noch, denke ich, hätte ich entkommen können, wenn ich kehrtgemacht und das Hasenpanier ergriffen hätte.