»Hinter ihn!« rief sie dem zweiten Armbrustschützen zu. »Ich pack’ ihn vorn.«
Er antwortete nicht. Vielmehr sperrte er den Mund auf und holte mit seinem Säbel weit aus. Bevor ich erkannt hatte, daß sein Augenmerk nicht mir galt, huschte etwas fiebrig Glühendes an mir vorüber. Ich vernahm das häßliche Krachen eines zerberstenden Schädels. Agia drehte sich mit katzenhafter Grazie um und hätte den Menschenaffen aufgespießt, aber ich schlug ihr die vergiftete Klinge aus der Hand, so daß sie in hohem Bogen ins Wasser fiel. Daraufhin versuchte sie zu fliehen; ich packte sie am Haar und warf sie auf den Boden.
Der Menschenaffe kauerte über dem Armbrustschützen, den er getötet hatte – ob er den Leichnam ausplündern wollte oder lediglich neugierig ob seines Aussehens war, das erfuhr ich nie. Ich stellte den Fuß auf Agias Nacken, und der Menschenaffe richtete sich, mir zugekehrt, auf, sank aber sogleich wieder in die Hockhaltung, die ich in der Mine beobachtet hatte, und streckte die Arme empor. Eine Hand fehlte; ich erkannte hinter dem glatten Schnitt Terminus Est. Der Menschenaffe murmelte etwas, das ich nicht verstand.
Ich versuchte zu antworten. »Ja, das hab’ ich getan. Tut mir leid. Nun herrscht wieder Frieden zwischen uns.«
Sein Ausdruck blieb flehentlich, als er abermals zum Reden ansetzte. Nach wie vor sickerte Blut aus dem Stumpf, doch muß seinesgleichen über einen Abklemmechanismus zum Verschließen der Arterien besitzen, wie es offenbar bei Thylacodonten der Fall ist; ohne Behandlung wäre ein Mensch an einer solchen Wunde binnen Minuten verblutet.
»Ich hab’ sie abgeschlagen«, sagte ich. »Aber das ist passiert, als wir noch gekämpft haben, bevor ihr die Klaue des Schlichters gesehen habt.« Dann kam mir in den Sinn, daß er mir gewiß nach draußen gefolgt war, um noch einmal das Juwel zu sehen und der Furcht vor dem, was wir unter dem Berg geweckt hatten, zu trotzen. Ich schob die Hand in den Stiefelschaft und zog die Klaue hervor; kaum hatte ich dies getan, erkannte ich, wie töricht ich gewesen war, den Stiefel samt seinem kostbaren Inhalt so nahe in Agias Reichweite zu bringen, denn ihre Augen wurden groß vor Begierde, als der Menschenaffe sich demütig tiefer beugte und seinen mitleiderregenden Stumpf vorstreckte.
Eine Weile verharrten wir alle drei regungslos und mußten in diesem unheimlichen Licht ein wunderliches Bild abgegeben haben. Ein verblüffte Stimme – Jonas – rief »Severian!« vom Hang herunter. Wie der Trompetenstoß in einem Schattenspiel, der alles Verstellen auflöst, zerstörte dieser Ruf unser Tableau. Ich senkte die Klaue und verbarg sie in der Hand. Der Menschenaffe stürmte zur Felswand, und Agia zappelte fluchend unter meinem Fuß.
Ein Schlag mit der flachen Klinge brachte sie wieder zur Ruhe, aber ich behielt meinen Stiefel auf ihr, bis Jonas kam und wir sie zu zweit bewachen konnten.
»Ich dachte mir, du könntest Hilfe gebrauchen«, erklärte er. »Wie ich sehe, hab’ ich mich getäuscht.« Er blickte zu den Leichen der Männer in Agias Begleitung.
Ich antwortete: »Das war nicht der wirkliche Kampf.«
Agia setzte sich auf und rieb sich den Nacken und die Schultern. »Wir waren zu viert, und wir hätten dich gekriegt, aber mit einemmal stürzten diese Glühwürmer, diese Tigermenschen aus dem Loch, so daß zwei von uns Angst bekamen und sich aus dem Staub machten.«
Jonas kratzte sich mit seiner Stahlhand den Kopf, was sich anhörte wie das Striegeln eines Schlachtrosses. »Also sah ich, was ich zu sehen glaubte. Ich habe mich schon gewundert.«
Ich fragte ihn, was er zu sehen geglaubt hatte.
»Eine leuchtende, pelzvermummte Gestalt, die sich vor dir verneigte. Du hieltest wohl einen Becher feurigen Weinbrands. Oder war es ein Räucherfaß? Was ist das?« Er bückte sich nach einem Gegenstand am Wasserrand, wo der Menschenaffe gehockt hatte.
»Eine Keule.«
»Ja, das sehe ich.« Am Ende des knöchernen Griffs befand sich eine Sehnenschlinge, die Jonas über sein Handgelenk streifte. »Was waren das für Leute, die dich töten wollten?«
»Wir hätten dich«, sagte Agia, »wäre nicht dieser Mantel gewesen. Wir sahen ihn aus dem Loch kommen, aber der Mantel bedeckte ihn beim Runterklettern, so daß meine Männer das Ziel bis auf die Haut der Arme nicht sehen konnten.«
Ich erklärte in knappster Form, wie ich Agia und ihrem Zwillingsbruder begegnet war, und berichtete vom Tode Agilus’.
»Sie ist also gekommen, um ihm nachzufolgen.« Jonas blickte von ihr auf die scharlachrote Klinge von Terminus Est und zuckte leicht die Achseln. »Ich hab’ meinen Merychippus da oben gelassen und sollte wohl besser gehen und nach ihm schauen. Auf diese Weise kann ich nachher sagen, nichts gesehen zu haben. Ist sie die Frau, die den Brief verfaßt hat?«
»Ich hätt’s mir denken können. Ich hatte ihr von Thecla erzählt. Du weißt nichts von Thecla, aber sie, und um Thecla ist es in diesem Brief gegangen. Ich erzählte ihr bei unserem Gang durch den Botanischen Garten von Nessus davon. Es waren Fehler im Brief und Dinge, die Thecla nie gesagt hätte, aber ich nahm mir keine Zeit zum Überlegen, als ich den Brief las.«
Ich wandte mich ab und schob die Klaue tief in meinen Stiefelschaft. »Es ist wohl besser, du kümmerst dich um dein Tier, wie du sagst. Das meine hat sich offenbar losgerissen, so daß wir uns beim Heimritt auf dem deinen werden abwechseln müssen.« Jonas nickte und machte sich auf den Weg, den er herabgekommen war.
»Ihr habt mir aufgelauert, nicht wahr?« fragte ich Agia. »Ich habe etwas gehört, und mein Tier hat die Ohren gespitzt. Das seid ihr gewesen. Warum habt ihr mich nicht bei dieser Gelegenheit getötet?«
»Wir waren dort oben.« Sie zeigte in die Höhe. »Die Männer, die ich angeheuert hatte, sollten dich erschießen, als du den Bach heraufkamst. Die Männer waren blöd und stur, wie es Männer immer sind, und meinten, sie bräuchten ihre Bolzen nicht zu verschwenden – die Kreaturen in der Mine würden dich umbringen. Ich rollte einen Stein hinunter – den größten, den ich bewegen konnte – aber da war es schon zu spät.«
»Hast du durch sie von der Mine erfahren?«
Agia zuckte die Achseln, und der Mondschein verwandelte ihre bloßen Schultern in etwas Kostbareres und Schöneres als Fleisch. »Du wirst mich nun töten, was spielt es also noch für eine Rolle? Alle Einheimischen hier erzählen sich Geschichten über diesen Ort. Sie sagen, diese Wesen kämen nachts bei Unwetter heraus und würden Vieh von der Weide stehlen oder auf der Suche nach Kindern in Häuser einbrechen. Es geht auch die Sage, sie würden dort drinnen einen Schatz bewachen, also habe ich das ebenfalls in den Brief aufgenommen. Wärst du nicht wegen deiner Thecla gekommen, dacht’ ich, dann bestimmt deswegen. Darf ich dir den Rücken zukehren, Severian? Es ändert zwar nichts, aber ich möchte es wenigstens nicht sehen.«
Als sie das sagte, fiel mir ein Stein vom Herzen: Ich war mir nicht sicher gewesen, ob ich es über mich gebracht hätte, zuzuschlagen, während sie mir ins Gesicht geblickt hätte.
Ich hob den Eisenphallus, wobei mir war, als wollte ich Agia noch etwas fragen; aber es wollte mir nicht wieder einfallen.
»Hau zu!« sagte sie. »Ich bin bereit.«
Ich suchte einen guten Stand, und meine Finger fanden den Frauenkopf an einem Ende des Stichblatts, der die weibliche Schneide kennzeichnete.
Und ein wenig später wiederum: »Hau zu!«
Aber ich war inzwischen schon aus dem Tal geklettert.
VIII
Die Cultellarii
Wir kehrten schweigend zum Gasthaus zurück und so langsam, daß im Osthimmel schon der Morgen graute, als wir ins Dorf gelangten. Während Jonas den Merychippus absattelte, sagte ich: »Ich habe sie nicht getötet.«
Er nickte, ohne mich anzusehen. »Ich weiß.«
»Hast du zugesehen? Du hast gesagt, du wolltest es nicht sehen.«
»Ich hörte ihre Stimme, als du praktisch neben mir standest. Wird sie’s wieder versuchen?«
Ich wartete und überlegte, während er den kleinen Sattel in die Geschirrkammer trug. Als er zurück war, erwiderte ich: »Ja, bestimmt wird sie das. Ich habe ihr kein Versprechen abverlangt, wenn du das meinst. Sie würde es sowieso nicht halten.«
»Dann hätte ich sie getötet.«
»Ja«, meinte ich, »das wäre vernünftig gewesen.«
Wir gingen gemeinsam aus dem Stall. Es war nun so hell im Hof, daß wir den Brunnen und die breite Eingangstür sehen konnten.
»Ich glaube nicht, daß es richtig gewesen wäre – ich will nur sagen, daß ich es getan hätte. Ich hätte mir vorgestellt, im Schlaf erdolcht zu werden, irgendwo in einem schmutzigen Bett zu sterben, und ich hätte ausgeholt. Es wäre nicht richtig gewesen.« Jonas hob den Streitkolben, den der Menschenaffe zurückgelassen hatte, und führte damit in Nachahmung eines Schwertstreichs einen wuchtigen, gnadenlosen Schlag aus. Der Kopf blitzte im Licht auf, und wir machten große Augen. Er war aus gehämmertem Gold.