»Aber sie ist gewiß sehr wertvoll, Sieur.«
»Sie ist unbezahlbar und damit wertlos. Du und ich, wir sind vernünftige Leute.« Trotz dieser Worte schwang Furcht in seiner Stimme. »Aber das Volk hält sie für heilig, schreibt ihr allerlei Wundertaten zu. Wenn ich sie besäße, gälte ich als Frevler und Feind des Theologumenons. Unsere Herren glaubten, ich wäre zum Verräter geworden. Du mußt mir sagen …«
In diesem Augenblick kam ein Mann, den ich bisher noch nicht gesehen hatte, zur Tafel gelaufen, und seine Miene verriet, daß er etwas Dringendes zu melden hatte. Vodalus erhob sich und ging mit ihm ein paar Schritte davon, wobei er aussah wie ein stattlicher Schulmeister mit einem Knaben, denn der Bote reichte ihm nur bis zur Schulter.
Ich aß und war der Meinung, er würde bald zurückkehren; aber nachdem er den Boten lange befragt hatte, entfernte er sich mit ihm und verschwand zwischen den dicken Baumstämmen. Auch die anderen erhoben sich nacheinander, bis nur noch die schöne Thea, Jonas und ich und ein anderer Mann übrigblieben. »Du willst dich uns anschließen«, sagte Thea schließlich mit ihrer Säuselstimme, »obwohl du unsere Wege nicht kennst. Benötigst du Geld?«
Während ich noch zögerte, erwiderte Jonas: »So etwas ist stets willkommen, Chatelaine, wie die Mißgeschicke eines älteren Bruders.«
»Ihr sollt von heute an von allem einen Anteil erhalten. Wenn ihr zurückkehrt, wird er euch ausgehändigt. Bis dahin habe ich für jeden von euch einen Säckel für unterwegs.«
»Wir müssen also fort?« fragte ich.
»Hat es nicht so geheißen? Vodalus wird euch beim Nachtessen Weisung erteilen.«
Ich war der Meinung, das soeben eingenommene Mahl wäre das letzte des Tages, und der Gedanke mußte sich in meiner Miene widergespiegelt haben.
»Wir schmausen heut’ nacht, wenn der Mond vom Himmel lacht«, verkündete Thea. »Man wird euch holen.« Dann zitierte sie ein paar Verszeilen:
Aber nun wird euch mein Diener Chuniald an einen Ort bringen, wo ihr für die Reise ruhen könnt.«
Der Mann, der bis jetzt geschwiegen hatte, stand auf und sagte: »Kommt mit!«
»Ich möchte Euch sprechen, Chatelaine, wenn wir mehr Zeit haben«, teilte ich Thea mit. »Ich weiß etwas über eine Schulkameradin von Euch.«
Sie sah, daß es mir damit Ernst war, und ich sah, daß sie’s gesehen hatte. Dann folgten wir Chuniald etwa eine Meile oder länger durch den Wald und gelangten schließlich an ein grasbewachsenes Bachufer. »Wartet hier!« forderte er uns auf. »Schlaft, wenn ihr könnt! Bis zum Einbruch der Dunkelheit wird niemand kommen.«
Ich fragte: »Was ist, wenn wir gehen?«
»Im ganzen Wald sind Leute, die wissen, was unser Herr mit euch vorhat«, erwiderte er, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Daraufhin erzählte ich Jonas, was ich neben dem geöffneten Grab gesehen hatte, genauso wie ich es hier niederschrieb.
»Ich verstehe«, meinte er, als ich geendet hatte, »warum du dich diesem Vodalus anschließen willst. Aber du darfst nicht vergessen, daß ich dein Freund bin, nicht der seine. Mein Wunsch ist, die Frau, die ihr Jolenta nennt, zu finden. Du willst Vodalus dienen und nach Thrax gehen, um in der Verbannung ein neues Leben zu beginnen und die Schande, die du, wie du sagst, über deine Zunft gebracht hast, wettzumachen – obschon ich offengestanden nicht verstehe, wie so etwas besudelt werden kann –, und du willst die Frau namens Dorcas finden und mit der Frau namens Agia Frieden schließen, während du den Frauen, die man Pelerinen nennt, etwas zurückgeben willst, das wir beide gut kennen.«
Er lächelte, als er sich dem Ende seiner Aufzählung näherte, und ich lachte.
»Und obschon du mich an den Falken des Greisen erinnerst, der zwanzig Jahre lang auf der Stange gesessen hat und dann in alle Himmelsrichtungen davongeflogen ist, hoffe ich, daß dir all das gelingt. Aber dir ist wohl klar, das eine oder andere davon kann – vielleicht zwar unwahrscheinlich, aber immerhin möglich – vier oder fünf andere Dinge vereiteln.«
»Du hast vollkommen recht«, gestand ich. »All das versuche ich zu erreichen, und ich widme, auch wenn du’s mir nicht glaubst, meine ganze Kraft und alle erforderliche Sorgfalt, soweit nützlich, jedem davon. Dennoch muß ich zugeben, es läuft nicht so gut, wie es könnte. Meine geteilten Ambitionen haben mich nicht weiter als bis zum Schatten dieses Baumes gebracht, wo ich als heimatloser Wanderer sitze. Du indes verfolgst entschlossen ein einziges allmächtiges Ziel … doch schau, wo du bist!«
Mit solchen Gesprächen verbrachten wir die Wachen des späten, Nachmittags. Über uns zwitscherten Vögel, und es war höchst angenehm, einen Freund wie Jonas zu haben –treu, vernünftig, taktvoll und von Weisheit, Humor und Umsicht erfüllt. Damals hatte ich keine Ahnung von seiner Herkunft, spürte aber, daß er hinsichtlich seiner Vergangenheit nicht ganz offen und ehrlich war, und versuchte, ihm das eine oder andere zu entlocken, ohne direkte Fragen zu stellen. Ich erfuhr (oder glaubte das zumindest), daß sein Vater ein Handwerker gewesen war; daß er ganz normal, wie er sagte, bei Vater und Mutter aufgewachsen war, obwohl das eigentlich eher selten der Fall ist; und daß er in einer südlichen Küstenstadt zu Hause gewesen war, dort aber nicht mehr bleiben wollte, weil sie sich so verändert hatte, wie er bei seinem letzten Besuch feststellte.
Seinem Aussehen nach hatte ich ihn bei unserer ersten Begegnung an der Mauer auf etwa zehn Jahre älter als mich geschätzt. Anhand dessen, was er nun sagte (und in einem geringeren Ausmaß aufgrund früherer gemeinsamer Gespräche) schloß ich, daß er etwas älter sein mußte; offenbar war er in den Chroniken der Vergangenheit sehr belesen und ich selbst trotz der Geistesschulung durch Meister Palaemon und Thecla viel zu naiv und ungebildet, um das bei jemand, der die Lebensmitte noch lange nicht erreicht hatte, zu vermuten. Er stand allem Menschlichen mit etwas zynischer Distanz gegenüber, was nahelegte, daß er viel von der Welt gesehen hatte.
Wir plauderten noch, als ich die anmutige Gestalt der Chatelaine Thea in einiger Entfernung zwischen den Bäumen entdeckte. Ich stupste Jonas, und wir schwiegen, um sie zu beobachten. Sie näherte sich uns, ohne uns gesehen zu haben, so daß sie herumtappte wie jemand, der lediglich einer Wegerklärung folgt. Zuweilen fiel das Sonnenlicht auf ihr Gesicht, das mich – falls zufällig im Profil gesehen – so stark an Thecla erinnerte, daß der Anblick mir das Herz aus dem Leib riß. Sie hatte obendrein Theclas Gang, dieses stolze Schreiten eines Phororhacos, der nie hätte eingesperrt werden dürfen.
»Muß eine wirklich alte Familie sein«, flüsterte ich Jonas zu. »Schau sie an! Wie eine Dryade. Eine wandelnde Weide.«
»Diese alten Familien sind die jüngsten von allen«, antwortete er. »Im Altertum hat’s so etwas nicht gegeben.«
Sie war wohl zu weit entfernt, um uns zu verstehen, aber seine Stimme hatte sie offenbar gehört, weil sie in unsere Richtung blickte. Wir winkten, und sie ging schneller und kam, ohne zu rennen, rasch näher, da ihre Schritte so lang waren. Wir standen auf und setzten uns wieder hin, nachdem sie zu uns gelangt und sich im Gras mit dem Gesicht zum Bach niedergelassen hatte.
»Du sagtest, du habest mir etwas von meiner Schwester zu berichten?« Ihre Stimme ließ sie weniger schrecklich wirken, und im Sitzen war sie kaum größer als wir.
»Ich war ihr letzter Freund«, erzählte ich. »Sie sagte, Ihr solltet Vodalus überreden, sich auszuliefern, um sie zu retten. Wußtet Ihr, daß sie inhaftiert war?«
»Warst du ihr Diener?« Thea schien mich mit den Augen abzuwägen. »Ja, ich erfuhr, man habe sie an jenen entsetzlichen Ort in den Elendsvierteln von Nessus gebracht, wo sie meines Wissens schnell starb.«