»Aber, Sieur, das Haus Absolut …«
Die Flötenklänge einer Upanga klangen von den Bäumen jenseits des Kreises herüber.
»Ich muß bald gehen, um die Braut zu führen, aber fürchte dich nicht. Vor einiger Zeit bist du einem bestimmten Dachs von mir begegnet …«
»Hildegrin! Sieur, ich verstehe nichts.«
»Unter anderem verwendet er diesen Namen, ja. Er hielt es für außergewöhnlich genug, einen Folterer so weit von der Zitadelle entfernt zu sehen, und versprach sich etwas davon, dich beobachten zu lassen, obwohl er – um wieder auf mich zu kommen – keine Ahnung hatte, daß du mich an jenem Abend gerettet hattest. Leider verloren dich die Aufpasser an der Mauer aus den Augen; von da an verfolgten sie die Reise deiner Gefährten in der Hoffnung, du würdest dich ihnen wieder anschließen. Ich vermutete, daß ein Verbannter bereit wäre, für uns Partei zu ergreifen und den armen Barnoch so lange zu schonen, bis wir ihn hätten befreien können. Gestern abend ritt ich persönlich nach Saltus, um mit dir zu reden, aber zum Dank dafür wurde mir mein Reittier gestohlen, und ich erreichte rein gar nichts. Also war es heute erforderlich, dich mit allen Mitteln fortzuschaffen, damit du an meinem Diener dein Handwerk nicht ausüben konntest; da ich jedoch hoffte, du würdest mit uns trotz allem gemeinsame Sache machen, wies ich meine Männer, die ich schickte, an, dich lebend zu mir zu bringen. Dadurch verlor ich drei und gewann zwei. Die Frage ist nun, ob die zwei die drei aufwiegen.«
Nun erhob sich Vodalus ein wenig schwankend; ich dankte der Heiligen Katharina, daß ich nicht ebenfalls aufstehen mußte, denn ich war mir sicher, meine Beine hätten mich nicht getragen. Etwas Düsteres und Weißes von der doppelten Größe eines Mannes segelte zum Gezwitscher der Upanga durch die Bäume. Jedermann reckte den Hals, und Vodalus glitt ihm entgegen. Thea beugte sich über seinen leeren Stuhl und raunte mir zu: »Ist sie nicht schön? Sie haben Wunder vollbracht.«
Es handelte sich um eine Frau, die auf einer silbernen Bahre saß, welche sechs Männer auf den Schultern trugen. Zunächst glaubte ich, sie sei Thecla – so groß war die Ähnlichkeit im orangefarbenen Licht. Dann erkannte ich, daß es eher ein vielleicht aus Wachs geschaffenes Ebenbild war.
»Man sagt, es sei gefährlich«, säuselte Thea, »wenn man den Geteilten im Leben gekannt hat; gemeinsame Erinnerungen können leicht den Verstand verwirren. Dennoch will ich, die ich sie geliebt, diese Verwirrung riskieren, was auch dein Wunsch ist, wie ich dir angesehen habe, als du von ihr gesprochen, weshalb ich Vodalus nichts gesagt habe.«
Vodalus griff empor und hielt den Arm der stummen Figur, während sie durch den Kreis getragen wurde; ein süßer, unverkennbarer Geruch ging von ihr aus. Ich mußte an die Agutis unserer Maskierungsfeiern denken, deren Fell mit Kokosnüssen und deren Augen mit eingelegten Früchten garniert wurden, und wußte, daß dies die Nachgestaltung eines Menschen aus Bratfleisch war.
In diesem Augenblick hätte ich wohl den Verstand verloren, wäre der Alzabo nicht gewesen. Ich stand zwischen meiner Wahrnehmung und der Wirklichkeit wie ein Riese aus Nebel, durch den alles sichtbar, aber nichts erfaßbar war. Ein weiterer Verbündeter gesellte sich hinzu: das in mir keimende Wissen, die Gewißheit, wenn ich nun bereitwillig einen Brocken der gegenständlichen Thecla hinunterschlänge, würden die Spuren ihres Sinnes, der andernfalls bald vergehen müßte, in mich eindringen und so lange wie ich – wenn auch verkümmert – fortdauern.
Die Bereitschaft stellte sich ein. Das beabsichtigte Handeln schien mir nicht mehr verwerflich oder schrecklich. Vielmehr öffnete ich mich ihr ganz und schmückte mein innerstes Sein mit herzlichem Willkommen. Auch Begehren stellte sich ein, der Droge entspringend; ein Hunger, den keine andere Speise sättigen konnte, und als ich mich im Kreise umblickte, sah ich diesen Hunger in jedem Gesicht.
Der livrierte Diener, der wohl zu Vodalus’ altem Haushalt gehört hatte und ihm in die Verbannung gefolgt war, trat zu den sechs Männern, die Thecla in den Kreis getragen hatten, und half ihnen beim Absetzen der Bahre. Ein paar Atemzüge lang verwehrten sie mir mit ihrem Rücken die Sicht. Als sie auseinandergingen, war Thecla verschwunden; zurückgeblieben waren nur dampfende Fleischstücke, die auf einer tischtuchähnlichen weißen Decke ausgebreitet lagen …
Essend und wartend flehte ich um Vergebung. Sie hätte das prächtigste Grabmal aus kostbarstem Marmor von erlesenstem Ebenmaß verdient. Statt dessen sollte sie in meiner Folterwerkstatt mit seinem geschrubbten Boden und halb von Blumengewinden verhangenen Gerätschaften begraben werden. Die Nachtluft war frisch, dennoch schwitzte ich. Ich wartete, daß sie käme, während die Tropfen über meine bloße Brust rannen und ich vor mich auf den Boden starrte aus Furcht, ich könnte sie in den Gesichtern der anderen sehen, bevor ich ihre Anwesenheit in mir spürte.
Ich verzweifelte schon – als sie da war und mich erfüllte, wie eine Melodie eine Hütte erfüllt. Ich war bei ihr, und wir liefen gemeinsam neben dem Acis. Ich kannte die alte, mit einem Graben umgebene Villa am Ufer eines dunklen Sees, den Ausblick durch die staubigen Fenster des Belvederes und das verschwiegene Plätzchen in einer Ecke zwischen zwei Zimmern, wo wir zur Mittagszeit saßen und im Kerzenschein lasen. Ich kannte das Leben am Hofe des Autarchen, wo in einem diamantenen Kelch Gift wartete. Ich erfuhr, was es für jemand, der noch nie eine Zelle gesehen oder eine Gerte gespürt hatte, hieß, in die Gefangenschaft der Folterer zu geraten; was Sterben bedeutete und Tod.
Ich erfuhr, daß ich ihr mehr war, als ich je geahnt hätte, und fiel schließlich in einen Schlaf, in dem meine Träume alle von ihr waren. Nicht nur Erinnerungen – mit Erinnerungen war ich bereits reichlich versehen. Ich hielt die armen, kalten Hände in den meinen, und ich trug nunmehr weder die Lumpen eines Lehrlings noch das Schwarz eines Gesellen. Wir waren eins, nackt und glücklich und rein, und wir wußten, daß sie nicht mehr war, während ich noch lebte, und wir wehrten uns gegen nichts von alledem, sondern lasen mit verflochtenen Haaren aus einem einzigen Buch und redeten und sangen von anderen Dingen.
XII
Die Notulen
Ich kam aus meinen Träumen von Thecla direkt in den Morgen. In einem Moment schritten wir stumm durch Gefilde, die sicherlich das Paradies waren, welches die Neue Sonne, wie man sagt, allen auftut, die sie in ihren letzten Augenblicken anrufen. Und obschon die Weisen lehren, daß es jenen verschlossen bleibt, die sich selbst richten, glaube ich einfach, daß sie, die so vieles vergibt, zuweilen auch das vergeben muß. Im nächsten Moment bemerkte ich Kälte und unfreundliches Licht und das Piepsen von Vögeln.
Ich setzte mich auf. Mein Mantel war feucht vom Tau, und Tau bedeckte wie Schweiß mein Gesicht. Neben mir hatte Jonas sich zu regen begonnen. In zehn Schritt Entfernung standen, auf dem Zaumgebiß kauend und ungeduldig auf die Erde stampfend, zwei große Streitrosse – eins weiß wie Wein, das andere makellos schwarz. Vom Fest und von den Festgästen fehlte jede Spur; ebenso von Thecla, die ich nie wieder gesehen habe und die ich nun in diesem Dasein nicht mehr wiederzusehen hoffe.
Terminus Est lag, in der festen, gut eingeölten Scheide geborgen, neben mir im Gras. Ich hob es auf und ging bergab, bis ich auf einen Bach stieß, wo ich mich, so gut es ging, frisch machte. Als ich zurückkam, war Jonas wach. Ich schickte ihn zum Wasser, und während er fort war, sagte ich der toten Thecla Lebewohl.
Dennoch ist ein Teil von ihr noch bei mir; zuweilen bin ich als Denkender nicht Severian, sondern Thecla, gleichsam als wäre mein Verstand ein hinter Glas gerahmtes Bild, vor dem Thecla stünde, so daß sie sich im Glase spiegelte. Wenn ich seit jener Nacht an sie denke, ohne eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort ins Visier zu nehmen, steht die Thecla, die in meiner Vorstellung auflebt, obendrein stets vor einem Spiegel in einem glänzenden, schneeweißen Gewand, das ihre Brüste nur spärlich bedeckt und in immer neuen Faltenwürfen von ihren Hüften fällt. Ich sehe sie für einen Moment davor verharren; sie hebt die Hände und streicht über unser Gesicht.