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»Da ist noch eins«, sagte ich. Er nickte und gebrauchte seine Stahlhand, um dem Toten gewaltsam den Mund zu öffnen; statt Zähnen, bläulicher Zunge und blutlosem Zahnfleisch zeigte sich uns ein schier bodenloser Schlund, so daß mein Magen sich zusammenkram-pfte. Jonas zog die dritte Kreatur heraus, an der der Speichel des Toten klebte.

»Hätte er nicht noch ein Nasenloch oder den Mund frei gehabt, wenn ich das Ding nicht ein zweites Mal zertrennt hätte?«

»Erst wenn sie sich in die Lungen vorgearbeitet hätten. Wir hatten wirklich Glück, daß wir so schnell zur Stelle sein konnten. Sonst hätten wir ihm den Leib eröffnen müssen, um sie zu erwischen.«

Die Rauchfahne erinnerte mich an die brennende Zeder. »Wenn sie doch auf Wärme aus waren …«

»Sie bevorzugen die Wärme eines Lebewesens, obwohl man sie manchmal mit einem Feuer aus lebenden Pflanzen ablenken kann. Eigentlich ist es nicht nur Wärme, glaub’ ich. Vielleicht eine abstrahlende Energie, die wachsenden Zellen zueigen ist.« Jonas streckte die dritte Kreatur in die Büchse und verschloß den Deckel. »Wir haben sie Notulen genannt, weil sie für gewöhnlich nach Einbruch der Dämmerung auftauchen, wenn sie fast unsichtbar sind; aber ich habe keine Ahnung, wie die Einheimischen sie nennen.«

»Wo ist diese Insel?«

Er sah mich sonderbar an.

»Ist es weit von der Küste? Ich wollte schon immer Uroboros sehen, obzwar es wohl nicht ungefährlich ist.«

»Sehr weit«, antwortete Jonas tonlos. »Wirklich sehr weit. Warte einen Moment!«

Ich wartete und sah ihn ans Flußufer gehen. Er schleuderte die Büchse mit aller Kraft – fast in der Mitte des Stromes schlug sie im Wasser auf und versank. Als er wieder bei mir war, fragte ich: »Hätten wir diese Dinger nicht selbst benutzen können? Wer immer sie geschickt hat, wird nun höchstwahrscheinlich noch nicht aufgeben, und wir hätten sie gebrauchen können.«

»›Sie gehorchen uns doch nicht, und die Welt ist ohne sie besser dran‹, wie die Frau des Schlachters sagte, als sie ihm seine Männlichkeit abschnitt. Und nun sollten wir besser aufbrechen. Es kommt jemand über die Straße.«

Ich blickte, wohin Jonas deutete, und sah zwei Gestalten zu Fuß näherkommen. Er hatte sein Roß, das im Fluß trank, am Halfter ergriffen und war im Begriff aufzusitzen. »Wart!« bat ich. »Oder geh ein, zwei Ketten voraus und warte dort!« Der blutende Armstumpf des Menschenaffen kam mir in den Sinn, und ich sah scheinbar die geweihten Lichter der Kathedrale mit ihrem schwachen, karmesin- und magentaroten Schein zwischen den Bäumen hängen. Ich griff in meinen Stiefel, ganz hinunter, wohin ich sie zur Sicherheit gesteckt hatte, und zog die Klaue heraus.

Das war das erste Mal, daß ich sie bei vollem Tageslicht sah. Sie blitzte und strahlte wie die Neue Sonne selbst, nicht nur blau, sondern in allen Farben von Violett bis Ultramarin. Ich legte sie dem Ulanen auf die Stirn und versuchte, ihn durch Willenskraft zum Leben zu erwecken.

»Komm!« rief Jonas. »Was tust du denn?«

Ich wußte nicht, was ich ihm erwidern sollte.

»Er ist noch nicht tot«, rief Jonas. »Runter von der Straße, bevor er seine Lanze findet!« Er trieb seinen Schimmel an.

Aus der Ferne ertönte eine Stimme, die mir bekannt vorkam. »Meister!« Ich wandte den Kopf und blickte über die grasbewachsene Straße. »Meister!« Einer der Wanderer winkte mit dem Arm, und sie fingen beide zu laufen an.

»Es ist Hethor«, sagte ich; aber Jonas war schon weg. Ich sah nach dem Ulanen. Er hatte nun beide Augen aufgeschlagen, und sein Brustkorb hob und senkte sich. Als ich die Klaue von seiner Stirn nahm und wieder in den Stiefelschaft steckte, setzte er sich auf. Ich rief Hethor und seinem Gefährten zu, von der Straße zu verschwinden, aber sie hörten mich offenbar nicht.

»Wer bist du?«

»Ein Freund«, versicherte ich.

Obschon der Ulan noch geschwächt war, wollte er aufstehen. Ich reichte ihm die Hand und zog ihn hoch. Im ersten Moment starrte er auf alles – auf mich, die zwei herbeieilenden Männer, den Fluß und die Bäume. Die Rosse schienen ihn bange zu machen, sogar sein eigenes, das geduldig seines Reiters harrte. »Wo bin ich hier?«

»Auf der alten Straße neben dem Gyoll.«

Er schüttelte den Kopf und drückte ihn mit den Händen.

Hethor kam keuchend angerannt wie irgendein Hund, der kommt, wenn er gerufen wird, und dafür gehätschelt werden will. Sein Gefährte, den er mindestens zweihundert Schritt hinter sich gelassen hatte, trug die protzige Kleidung eines Galanteriewarenhändlers.

»M-m-meister«, sagte Hethor, »du kannst dir nicht vorstellen, was für Sch-schw-schwierigkeiten, tödliche Verluste und Mühsal wir auf uns genommen haben, um dich einzuholen über die Berge, die stürmischweiten Meere und u-u-unwegsamen Prärien dieser schönen Welt. Was bin ich, dein S-sklave, anderes als eine leere M-muschelschale, Spielball von tausend Gezeiten, hier an diesen einsamen Ort gespült, weil ich ohne dich nicht r-r-ruhen kann? W-wie könntest du, o Meister der roten Klauen, um die endlosen Plagen wissen, die du uns gekostet?«

»Einiges, würde ich meinen, da ich dich zu Fuß in Saltus zurückließ und selbst ordentlich beritten war in diesen letzten Tagen.«

»Du sagst es«, erwiderte er, »du sagst es.« Er warf seinem Gefährten einen bedeutungsvollen Blick zu, als hätte meine Bemerkung bekräftigt, was er selbst längst schon ausgesprochen hatte, und setzte sich zum Rasten auf den Boden.

Der Ulan sagte langsam: »Ich bin der Kornett Mineas. Wer seid ihr?«

Hethor senkte den Kopf, als wollte er sich verbeugen. »M-m-mein Herr ist der edle Severian, Diener des Autarchen – dessen Urin der Wein seiner Untertanen ist – von der Zunft der Wahrheitsucher und Büßer. H-h-hethor ist sein treuer Diener. Beuzec ist auch sein treuer Diener. Ich nehme an, der Mann, der gerade fortgeritten ist, ist gleichfalls sein Diener.«

Ich bedeutete ihm mit einer Geste zu schweigen. »Wir sind alle nur arme Wanderer, Kornett. Wir sahen Euch hier ohnmächtig liegen und wollten Euch helfen. Noch vor einem Moment hielten wir Euch für tot; es war wohl sehr knapp.«

»Wo bin ich hier?« fragte der Ulan abermals.

Hethor setzte mit Eifer zu einer Antwort an. »Auf der Straße nördlich von Quieso. M-m-meister, wir waren auf einem Schiff und berühren die weiten Wasser des Gyoll in blinder Nacht. Wir gi-g-gingen in Quiesco an Land. Auf ihrem Deck und in ihren Segeln erarbeiteten wir uns die Ü-Überfahrt, Beuzec und ich. So langsam stromaufwärts, während die Glücklichen über uns auf ihrem Weg zum H-h-haus Absolut vorüberbrausten, aber sie m-m-machte unentwegt F-f-fahrt voraus, ob wir wachten oder schliefen, weshalb wir dich einholten.«

»Haus Absolut?« murmelte der Ulan.

Ich sagte: »Es ist nicht weit von hier, denke ich.«

»Ich muß besonders wachsam sein.«

»Bestimmt wird gleich einer Eurer Kameraden eintreffen.« Ich packte meinen Rappen und kletterte auf seinen hohen Rücken.

»M-m-meister, du willst uns doch nicht wieder v-v-ver-lassen? Beuzec hat dich erst zweimal deines Amtes walten gesehen.«

Ich wollte ihm gerade antworten, als ich etwas Weißes zwischen den Bäumen jenseits der Straße aufblitzen sah. Etwas Monströses bewegte sich dort. Sofort kam mir der Gedanke in den Sinn, daß der Sender der Notulen eine andere Waffe besäße, so daß ich dem Rappen die Absätze in die Flanken stieß.

Er preschte los. Eine halbe Meile oder länger jagten wir entlang des schmalen Streifens, der die Straße vom Fluß trennte. Als ich endlich Jonas bemerkte, galoppierte ich zu ihm, um ihn zu warnen und ihm vom Gesehenen zu berichten.

Während ich erzählte, war er offenbar in Gedanken versunken. Als ich geschlossen hatte, erwiderte er: »Ich weiß nichts von einem solchen Ding, das du schilderst, aber es mag viele Importe von Ländern unter fernen Sternen geben, von denen ich nichts ahne.«