»Aber so etwas würde doch sicherlich nicht frei herumwandern wie eine streunende Kuh!«
Anstatt zu antworten, deutete Jonas auf eine Stelle ein paar Schritte vor uns.
Ein Kiesweg von kaum einer Elle Breite wand sich durch das Gehölz. Ihn säumten mehr wilde Blumen, als ich in der freien Natur je auf einem Fleck gesehen hatte, und seine Kieselsteine waren so einheitlich und so leuchtend weiß, daß sie gewiß von einem verborgenen, fernen Gestade stammen mußten.
Wir ritten näher, um ihn zu betrachten, und ich fragte Jonas, was ein solcher Pfad hier zu bedeuten hätte.
»Sicher nur eins – daß wir schon auf dem Grund des Hauses Absolut sind.«
Mit einemmal entsann ich mich dieses Plätzchens. »Ja«, beteuerte ich. »Einmal haben Josepha und ich zusammen mit anderen ein Angelfest veranstaltet und sind hierher gekommen. Wir sind bei der knorrigen Eiche herübergegangen …«
Jonas blickte mich an, als wäre ich von Sinnen, was ich selbst für einen Augenblick glaubte. Ich hatte schon so manche Jagd geritten, aber das war kein Jagdroß, sondern ein Schlachtroß, auf dem ich saß. Meine Hände erhoben sich selbsttätig wie Spinnen, um mir die Augen auszureißen –und hätten das vollbracht, wenn der zerlumpte Mann neben mir sie nicht mit der seinen, die aus Stahl gefertigt war, niedergeschlagen hätte. »Du bist nicht die Chatelaine Thecla«, mahnte er. »Du bist Severian, Geselle der Folterer, dem das Unglück widerfahren ist, sie zu lieben. Sieh selbst!« Er hielt die stählerne Hand so, daß ich das schmale, häßliche und entsetzte Gesicht eines Fremden als Spiegelbild in den blankgescheuerten Ballen sehen konnte.
Ich erinnerte mich wieder an unseren Turm mit den runden Mauern aus glattem, dunklem Metall. »Ich bin Severian«, sagte ich.
»Stimmt. Die Chatelaine Thecla ist tot.«
»Jonas …«
»Ja?« »Der Ulan lebt wieder – du hast ihn gesehn. Die Klaue hat ihm neues Leben geschenkt. Ich legte sie ihm auf die Stirn, aber vielleicht sah er sie einfach nur mit seinen toten Augen. Er setzte sich auf. Er atmete und sprach mit mir, Jonas.«
»Er war nicht tot.«
»Du hast ihn gesehn«, wiederholte ich.
»Ich bin viel älter als du. Älter als du glaubst. Wenn es etwas gibt, das ich auf meinen vielen Reisen gelernt habe, so das, daß weder die Toten auferstehn, noch die Jahre sich umkehren. Was gewesen ist, ist vorbei und kommt nicht wieder.«
Theclas Gesicht war noch vor mir, aber ein finsterer Wind umwehte es, bis es flackerte und erlosch. Ich sagte: »Wenn ich sie doch nur benutzt, die Macht der Klaue angerufen hätte, als wir bei jenem Totenmahl saßen …«
»Der Ulan wäre beinahe erstickt, war aber nicht ganz tot. Als ich die Notulen herausgenommen hatte, konnte er wieder atmen und erlangte nach einer Weile das Bewußtsein. Was deine Thecla angeht, so hätte sie keine Macht des Universums wieder zum Leben erwecken können. Sie müssen sie noch während deiner Gefangenschaft in der Zitadelle ausgegraben und in einer Eishöhle aufbewahrt haben. Bevor wir sie zu Gesicht bekamen, war sie wie ein Rebhuhn ausgeweidet und am Spieß gebraten worden.« Er ergriff meinen Arm. »Severian, sei kein Narr!«
In diesem Augenblick hatte ich kein anderes Verlangen als zu vergehen. Wären die Notulen wieder aufgetaucht, ich hätte sie in die Arme geschlossen. Was indes erschien, war etwas Weißes weit unten am Weg, wie ich es auch in Flußnähe gesehen hatte. Ich riß mich von Jonas los und galoppierte darauf zu.
XIV
Das Vorzimmer
Es gibt Wesen – und Artefakte – über die wir uns den Kopf zerbrechen und mit denen wir uns schließlich abfinden, indem wir sagen: »Es war nur ein Spuk, eine schöne, entsetzliche Erscheinung.«
Irgendwo auf den kreisenden Welten, die ich bald erforschen sollte, lebt eine Rasse, die den Menschen ähnlich und unähnlich zugleich ist. Sie sind nicht größer als wir. Ihr Leib gleicht dem unseren, außer daß er vollkommen ist und einer Norm gehorcht, die uns völlig fremd ist. Wie wir haben sie Augen, Nase und Mund; aber sie verwenden diese Züge (die, wie gesagt, vollkommen sind) um Emotionen auszudrücken, die wir nie empfunden haben, so daß wir beim Betrachten ihres Gesichtes den Eindruck bekommen, ein uraltes, schreckliches Alphabet der Gefühle zu sehen, das uns zugleich höchst wichtig und zugleich auch unverständlich scheint.
Eine solche Rasse gibt es, obschon ich ihr dort am Rande der Gärten des Hauses Absolut nicht begegnet bin. Was ich zwischen Bäumen erspäht hatte und worauf ich nun – zumindest bis ich es deutlich sah – zueilte, war vielmehr ein monströses, lebendig gewordenes Abbild eines solchen Wesens. Sein Fleisch bestand aus weißem Stein, und seine Augen hatten die runde, blinde Glätte (wie eine halbe Eierschale), wie wir sie von unseren eigenen Statuen kennen. Es bewegte sich langsam wie ein Berauschter oder Schlafwandler, aber ohne zu schwanken. Es war wohl blind, hatte aber offenbar ein – wenn auch träges – Wahrnehmungsvermögen.
Ich habe gerade innegehalten, um zu überlesen, was ich darüber geschrieben, und stelle fest, daß ich versäumt habe, das Wesentliche davon auch nur anzudeuten. Es war dem Geiste nach eine Skulptur. Wenn irgendein gestürzter Engel mein Gespräch mit dem grünen Mann belauscht hätte, hätte er vielleicht ein solches Rätsel ersonnen, um mich zu verhöhnen. Jede seiner Bewegungen vermittelte die Ruhe und Dauerhaftigkeit von Kunst und Stein; ich glaubte, jede Geste, jede Haltung des Hauptes, der Glieder und des Rumpfes sei die letzte. Oder daß eine jede sich vielleicht endlos wiederholte, wie die Stellungen der Zeiger auf Valerias facettenreicher Uhr sich durch die gewundenen Korridore der Sekunden wiederholten.
Nachdem die wunderliche weiße Statue mir meine Todessehnsucht genommen hatte, war der erste Schreck die instinktive Angst, sie könnte mir etwas tun.
Der zweite war, daß sie das nicht versuchen könnte. Wenn man sich so vor etwas fürchtet wie ich vor dieser stummen, unmenschlichen Gestalt und dann feststellt, daß es einem gar nichts tun will, ist unerträglich erniedrigend. Den Schaden, den ein Schlag auf diesen lebenden Stein an seiner Klinge anrichtete, einen Moment mißachtend, zückte ich Terminus Est und hielt den Rappen an. Sogar der Wind schien sich zu legen, als wir, der kaum bebende Rappe und ich mit erhobenem Schwert, fast starr wie Statuen dort standen. Die eigentliche Statue, deren drei- bis viermal überlebensgroßes Gesicht von unvorstellbarer Emotion geprägt und deren Glieder mit schrecklicher, vollendeter Schönheit angetan waren, hielt auf uns zu.
Ich hörte Jonas schreien und etwas knallen. Gerade noch sah ich, wie er auf dem Boden mit Männern rang, die hohe Helme mit kammartigen Aufsätzen trugen und vor meinen Augen verschwanden und wiederauftauchten, als etwas an meinem Ohr vorübersauste; dann traf mich etwas am Handgelenk, und ich fand mich in einem Netz aus Seilen wieder, das sich um mich zusammenzog wie kleine Schlangen. Jemand packte mich am Bein und zog, so daß ich stürzte.
Als ich mich soweit erholt hatte, daß ich bemerkte, was vor sich ging, lag eine Drahtschlinge um meinen Hals, und einer der Angreifer durchwühlte meine Gürteltasche. Deutlich sah ich seine Hände, die wie braune Sperlinge umherhuschten. Auch sein Gesicht war erkennbar, eine teilnahmslose Fratze, die wie am Faden eines Zauberers hängend vor mir schwebte. Hin und wieder blitzte bei seinen Bewegungen die außergewöhnliche Rüstung auf; dann sah ich sie, wie man einen in klares Wasser getauchten Kristallbecher sieht. Sie spiegelte und hatte einen Glanz, der wohl nicht bloß Menschenwerk sein konnte, so daß das eigentliche Material unsichtbar blieb, während die Grün- und Brauntöne des Waldes, von der Form von Küraß, Halsberge und Beinschienen verzerrt, ins Auge stachen.