Baldanders und unser Zelt waren verschwunden, aber sogleich hastete Dr. Talos heran und führte uns eilig über verschlungene Wege, vorüber an Balustraden, Wasserfällen und Grotten, die mit rohem Topas und blühendem Moos ausgefüllt waren, zu einer Senke mit gemähtem Gras, worin der Riese unter den Blicken eines Dutzend weißer Hirsche mühsam unsere Bühne errichtete.
Es sollte eine viel aufwendigere Bühne werden als diejenige, auf der ich innerhalb der Stadtmauer von Nessus gespielt hatte. Bedienstete des Hauses Absolut hatten offenbar Balken und Nägel, Werkzeug, Farben und Stoffe in solchen Mengen gebracht, wie wir sie unmöglich verwerten konnten. Diese Großzügigkeit hatte Dr. Talos’ Hang zum Grandiosen (der nie ganz schlummerte) geweckt, so daß er einerseits Baldanders und mir bei den schwereren Aufbauarbeiten zur Hand ging, daneben aber wie wild das Manuskript seines Schauspiels ergänzte.
Der Riese war unser Zimmermann und schuftete trotz seiner Behäbigkeit so stetig und kraftvoll – einen daumendicken Nagel trieb er mit ein, zwei Schlägen ins Holz, und einen Balken, an dem ich eine ganze Wache lang gesägt hätte, kürzte er mit wenigen Axthieben – wie zehn Sklaven unter der Peitsche.
Dorcas entdeckte bei sich ein Talent zum Malen, das zumindest mich in Erstaunen versetzte. Gemeinsam haben wir die schwarzen Platten aufgestellt, die das Sonnenlicht aufnehmen, nicht nur um Energie für die nächtliche Vorstellung zu speichern, sondern um schon jetzt die Projektoren in Gang zu setzen. Diese Geräte vermögen einen Hintergrund von tausend Meilen ebenso leicht wie das Innere einer Hütte darzustellen, aber die Illusion ist nur bei völliger Dunkelheit vollständig. Deshalb ist es angebracht, sie mit rückwärtigen gemalten Szenen zu verstärken, und diese hat Dorcas nun mit großem Geschick geschaffen, hüfttief in den Bergen stehend, während sie die Pinsel durch das im Tageslicht blasse Bild geführt hat.
Jolenta und ich waren weniger nützlich. Ich hatte keine zeichnerische Begabung und zu wenig Ahnung von den Erfordernissen des Spiels, um dem Doktor auch nur beim Vorbereiten der Requisiten helfen zu können. Jolenta war physisch und psychisch wohl jegliche Arbeit zuwider, ganz gewiß aber diese. Ihre langen Beine, so schlank unter den Knien, so drall darüber, waren ungeeignet, mehr als die Last ihres Leibes zu tragen; mit ihren vorspringenden Brüsten war sie der ständigen Gefahr ausgesetzt, sich die Warzen im Bauholz zu quetschen oder mit Farbe zu beschmieren. Noch hatte sie nichts von jenem Geist, der die Mitglieder einer Gruppe antreibt, sich für das gemeinsame Ziel einzusetzen. Dorcas hatte gesagt, daß ich in der letzten Nacht allein gewesen sei, und vielleicht hatte sie damit recht, als ich vermutet hatte, Jolenta indes war noch einsamer. Dorcas und ich hatten einander, Baldanders und der Doktor ihre krumme Freundschaft, und uns alle verband das Spiel auf der Bühne. Jolenta hatte jedoch nur sich selbst, die ständige Darbietung, die einzig zum Zweck hatte, Bewunderung zu hamstern.
Sie tippte mich auf den Arm und deutete, indem sie stumm die großen Augen rollte, auf den Rand unseres natürlichen Amphitheaters, wo Kastanienbäume ihre weißen Kerzen zwischen den hellen Blättern emporstreckten.
Da uns keiner der anderen sah, nickte ich. Nach Dorcas wirkte Jolenta an meiner Seite fast so groß wie Thecla, obwohl sie im Gegensatz zu Theclas wiegendem Schreiten kleine Schritte machte. Sie war mindestens um einen Kopf größer als Dorcas, und ihre Frisur ließ sie noch größer erscheinen; zudem trug sie Schnürschuhe mit hohen Reitabsätzen.
»Ich will es sehen«, sagte sie. »Es ist die einzige Gelegenheit, die ich je haben werde.«
Das war unverkennbar eine Lüge, aber ich antwortete, als glaubte ich ihr: »Das gilt auch umgekehrt. Heute, und nur heute, hat das Haus Absolut Gelegenheit, dich zu sehen.«
Sie nickte; ich hatte eine scharfsinnige Wahrheit verkündet. »Ich brauche jemanden – jemanden, den diejenigen, mit denen ich nicht sprechen will, fürchten. Ich meine all diese Schausteller und Komödianten. Als du weg warst, wollte nur Dorcas mit mir gehen, und die fürchtet keiner. Könntest du dieses Schwert zücken und über der Schulter tragen?«
Ich kam ihrem Wunsch nach.
»Wenn ich nicht lächle, verjage sie! Verstanden?«
Das Gras unter den Kastanien war viel länger als in unserem natürlichen Amphitheater, aber weich wie Farn; der Weg war mit golden geädertem Quarzkies bedeckt.
»Wenn mich nur der Autarch sähe, er würde mich begehren. Glaubst du, er kommt zu unserer Darbietung?«
Um ihr zu schmeicheln, nickte ich, fügte aber hinzu: »Ich habe gehört, er hat für Frauen wenig Verwendung, seien sie auch noch so schön, außer als Ratgeberinnen, Spioninnen und Schildherrinnen.«
Sie blieb stehen und wandte sich mir lächelnd zu. »Das ist es ja. Verstehst du denn nicht? Ich kann jeden dazu bringen, mich zu begehren, also auch ihn, den Einzigen Autarchen, dessen Träume unsere Wirklichkeit, dessen Erinnerungen unsere Geschichte sind. Auch er wird mich begehren, und sei er auch entmannt. Du hast neben mir andere Frauen gewollt, nicht wahr? Heftigst gewollt hast du sie?«
Ich bejahte.
»Also glaubst du, mich zu begehren, wie du sie gewollt hast.« Sie wandte sich ab und fing wieder zu gehen an, ein wenig humpelnd, wie man bei ihr immer den Eindruck hatte, nun aber übertrieben, um das eigene Argument zu betonen. »Aber ich lasse jeden Mann erstarren und jede Frau lüstern erschaudern. Frauen, die noch nie eine Frau geliebt, wollen mich lieben – hast du das gewußt? Selbige kommen immer wieder zu unseren Darbietungen und schicken mir ihr Essen und ihre Blumen, Schals, Stolen und Spitzentaschentücher mit ach so schwesterlichen, mütterlichen Zeilen. Sie beschützen mich, beschützen mich vor meinem Doktor, vor seinem Riesen, vor ihren Männern und Söhnen und Nachbarn. Und die Männer! Baldanders muß sie in den Fluß werfen.«
Ich fragte, ob sie sich einen Fuß verstaucht habe, und blickte mich nach einer Beförderungsmöglichkeit um, als wir den Kastanienhain verließen, aber es war nirgendwo etwas zu sehen.
»Meine Oberschenkel sind wund gerieben, und das Gehen tut weh. Ich habe eine Salbe dafür, die ein bißchen hilft, und ein Mann hat mir zum Reiten ein Pony gekauft, aber ich weiß nicht, auf welcher Weide es jetzt steht. Am angenehmsten ist es, wenn ich die Beine breit machen kann.«
»Soll ich dich tragen?«
Wieder lächelte sie, wobei ein vollendetes Gebiß zum Vorschein kam. »Das würd’ uns beiden gefallen, nicht wahr? Aber es sähe leider nicht sehr vornehm aus. Nein, ich gehe – hoffe nur, ich muß nicht weit gehen. Ja, ich werde nicht weit gehen, was immer auch geschieht. Bis auf die Komödianten scheint sowieso keiner unterwegs zu sein. Vielleicht schlafen die wichtigen Leute länger, um für das Fest heut’ abend gerüstet zu sein. Ich muß selber noch schlafen, wenigstens vier Wachen, bevor ich weiter gehe.«
Ich hörte Wasser plätschern und hielt darauf zu, da ich kein besseres Ziel im Auge hatte. Wir zwängten uns durch eine Weißdornhecke, deren gesprenkelte weiße Blüten aus der Ferne als ein schier undurchdringliches Hindernis gewirkt hatten, und ich gewahrte einen Fluß, kaum breiter als eine Straße, über den wie Eisskulpturen Schwäne glitten. Es stand an seinem Ufer ein Pavillon, und es lagen dort drei Boote, ein jedes in der Form einer großen Teichrosenblüte. Ihr Bauch war mit dickstem Seidenbrokat ausgepolstert, das einen würzigen Duft verströmte, wie ich feststellte, als ich eins davon bestieg.