JAHI: Glaub’ ich auch.
ZWEITER SOLDAT: Ich halte dich an deiner Halskette – scheint fest genug zu sein. Wenn das genügt, zeig mir, was du kannst. Wenn nicht, komm mit! Du bist kein bißchen freier, solang’ ich dich hab’.
JAHI erhebt beide Arme, den kleinen Finger, Zeigefinger und Daumen abgestreckt.
Nach kurzer Stille ertönt eine wunderliche, sanfte Musik, mit Trillern versetzt.
Schneeflocken fallen weich.
ZWEITER SOLDAT: Schluß damit!
Er packt einen Arm und zerrt ihn nach unten. Die Musik verstummt jäh. Die letzten Schneeflocken fallen in sein Haar.
ZWEITER SOLDAT: Das war kein Gold.
JAHI: Doch du hast gesehen.
ZWEITER SOLDAT: In meinem Heimatdorf lebt eine Greisin, die auch aufs Wetter wirken kann. Sie ist zwar nicht so schnell wie du, geb’ ich zu, aber sie ist ja auch viel älter und zittrig.
JAHI: Wer sie auch sei, sie ist nicht ein Tausendstel so alt wie ich.
Langsam und wie blind tritt die STATUE auf.
JAHI: Was ist das? ZWEITER SOLDAT: Eines von Vater Inires kleinen Spielzeugen. Es kann weder hören noch Laute von sich geben. Ich bin mir nicht sicher, ob es lebendig ist.
JAHI: Ich auch nicht.
Als die STATUE an ihr vorübergeht, streichelt sie ihr mit der freien Hand über die Wange.
JAHI: Liebster … Liebster … Liebster. Hast keinen Gruß für mich?
STATUE: E-e-e-i!
ZWEITER SOLDAT: He! Schluß! Weib, du sagtest, du habest keine Macht, solange ich dich halte.
JAHI: Sieh meinen Sklaven. Kannst du dich seiner erwehren? Los – zerbrich dir den Spieß an dieser breiten Brust!
Die STATUE kniet nieder und küßt JAHIS Fuß.
ZWEITER SOLDAT: Nein, aber ich kann ihm davonrennen.
Er wirft sich JAHI über die Schulter und rennt. Die Tür im Berg geht auf. Er tritt ein, und sie schlägt hinter ihm zu. Die STATUE hämmert mit mächtigen Schlägen dagegen, aber sie gibt nicht nach. Tränen strömen über ihr Gesicht.
Schließlich wendet sie sich ab und beginnt mit den Händen zu graben.
GABRIEL (von draußen): Also bleibt treu dem vergang’nen Tag, ein Bild in Stein, wenn der Mensch entfleucht, in der Öde allein.
Während die STATUE weitergräbt, geht allmählich das Licht aus.
Wenn das Licht wieder angeht, sitzt der AUTARCH auf seinem Thron. Er ist allein auf der Bühne, aber projizierte Silhouetten zu beiden Seiten stellen dar, daß sein Hofstaat bei ihm weilt.
AUTARCH: Hier sitze ich wie der Herr über tausend Welten. Dennoch bin ich nicht einmal Herr über diese eine.
Draußen hört man eine Truppe aufmarschieren. Ein Befehl wird gerufen.
AUTARCH: Generalissimus!
Ein PROPHET tritt auf. Er trägt ein Ziegenfell und hält einen Stab, dessen Spitze grob zu einem seltsamen Symbol geschnitzt ist.
PROPHET: Hundert Zeichen sind zu sehn. Ein Kalb wurde geboren, das keinen Kopf, aber an den Knien Münder hat. Eine hochanständige Frau hat geträumt, sie gehe mit einem Kind von einem Hund.
Gestern nacht ist ein Sternenregen zischend aufs südliche Eis niedergeprasselt, und die Propheten sind ausgezogen und wandern durchs Land.
AUTARCH: DU selbst bist ein Prophet.
PROPHET: Der Autarch selbst hat sie gesehen!
AUTARCH: Mein Archivar, der in der Geschichte dieses Fleckens sehr bewandert ist, hat mir einmal kundgetan, daß hier über hundert Propheten getötet worden sind – gesteinigt, verbrannt, von wilden Tieren zerrissen und ertränkt. Manche hat man sogar wie Geschmeiß an die Türen genagelt. Nun möcht’ ich von dir etwas über das Kommen der Neuen Sonne erfahren, wie es schon so lange vorhergesagt ist. Wie wird es sich abspielen? Was hat es zu bedeuten? Sprich, oder der alte Archivar darf einen weiteren Strich auf seine Liste setzen, und an diesem Stab soll man die weiße Ackerwinde ziehen.
PROPHET: Ich bin ohne Hoffnung, Euch zu genügen, aber ich will’s versuchen.
AUTARCH: Weißt du’s nicht?
PROPHET: Ich weiß es. Aber ich kenne Euch als praktischen Mann, der sich einzig mit den Dingen dieses Universums befaßt und selten höher als bis zu den Sternen blickt.
AUTARCH: Seit dreißig Jahren rühme ich mich dessen.
PROPHET: Dennoch müßt auch Ihr wissen, daß am Herzen der Alten Sonne der Krebs nagt. In ihrer Mitte zersetzt sich die Materie und fällt zusammen, als wäre dort eine Grube ohne Boden, von der Oberfläche umschlossen.
AUTARCH: Meine Astronomen haben mir das längst mitgeteilt.
PROPHET: Stellt Euch einen kernfaulen Apfel vor. Außen schön, bis er schließlich zusammenfällt.
AUTARCH: Jeder Mann, der noch bei Kräften ist in seiner zweiten Lebenshälfte, hat an diese Frucht gedacht.
PROPHET: Soweit also zur Alten Sonne. Aber wie steht’s mit ihrem Krebs? Was wissen wir darüber, außer daß er der Urth die Wärme, das Licht und schließlich alles Leben entzieht?
Kampfgeräusche von draußen. Ein schmerzhafter Schrei und ein Poltern, als wäre eine große Vase von ihrem Podest gestoßen worden.
AUTARCH: Was dieser Tumult auf sich hat, das werden wir schnell genug erfahren, Prophet. Fahr fort!
PROPHET: Wir wissen, daß es viel mehr ist, denn es erweist sich als Unterbrechung in unserem Universum, als Riß in seinem Gefüge, an keine uns bekannte Gesetzmäßigkeit gebunden. Von ihm kommt nichts – alles dringt ein, nichts entweicht. Dennoch mag daraus alles Mögliche zum Vorschein kommen, denn von allen Dingen, die wir kennen, ist es allein kein Sklave der eigenen Natur.
Blutend, von Piken, die hinter der Szene gehalten werden, angetrieben, tritt NOD auf.
AUTARCH: Was ist das für eine Mißgeburt?
PROPHET: Der eigentliche Beweis für die Zeichen, von denen ich sprach. In künftigen Zeiten, so wird seit langem gesagt, wird der Tod der Alten Sonne die Urth vernichten. Aber ihrem Grab werden Ungetüme, ein neues Volk und die Neue Sonne entsteigen. Die Alte Urth wird sich entfalten wie ein Schmetterling, der seiner trockenen Hülse entschlüpft, und die Neue Urth wird man Ushas heißen.
AUTARCH: Dennoch wird alles uns Vertraute fortgefegt? Dieses alte Haus, worin wir stehen? Du? Ich?
NOD: Ich bin kein Weiser. Dennoch hörte ich einen weisen Mann – der bald mit mir verwandt sein wird – unlängst sagen, all das sei zum Besten. Wir sind nur Träume, und Träume haben naturgemäß kein Leben. Seht, ich bin verletzt. (Hält die Hand vor.) Wenn die Wunde heilt, ist sie verschwunden. Sollte sie mit ihren blutigen Lippen sagen, sie bedauere zu heilen? Ich versuche nur zu erklären, was ein anderer gesagt, aber das, glaub’ ich, hat er wohl gemeint.
Tiefe Glocken von draußen.
AUTARCH: Was ist das? Du, Prophet, gehst und bringst in Erfahrung, wer diesen Lärm veranlaßt hat und warum.
PROPHET geht ab.
NOD: Eure Glocken läuten gewiß, um die Neue Sonne willkommen zu heißen. Deswegen bin auch ich hier. Es ist bei uns Brauch, bei der Ankunft eines geschätzten Gastes zu brüllen, uns auf den Brustkasten zu schlagen und auf den Boden und gegen die Stämme der umstehenden Bäume zu stampfen vor lauter Freude und die größten Steine, die wir stemmen können, über die Hänge rollen zu lassen, ihm zu Ehren. Ich will das auch heut’ morgen tun, wenn Ihr mich freilaßt, und ich wette, die Urth selbst wird es mir gleichtun. Die Berge gar werden ins Meer hüpfen, wenn die Neue Sonne heute aufgeht.