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Wie schon erwähnt, bin ich geflohen. Aber diese kleine Verzögerung, wobei ich Terminus Est aufhob und Baldanders wilden Angriff beobachtete, wäre mir fast teuer zu stehen gekommen; als ich mich abkehrte, um Dorcas in Sicherheit zu bringen, war sie verschwunden.

Ich rannte, nicht so sehr vor dem tobenden Baldanders oder den Cacogens im Publikum oder den Prätorianern des Autarchen (die gewiß bald einträfen), sondern um Dorcas zu finden. Ich suchte und rief sie beim Namen, stieß aber auf nichts anderes als die Wälder, Brunnen und jähen Schächte dieses endlosen Gartens; schließlich hörte ich, außer Atem und mit schmerzenden Beinen, zu laufen auf und ging.

Es ist mir unmöglich, meine ganze Bitterkeit, die ich damals empfunden habe, aufs Papier zu bringen. Dorcas endlich gefunden und so rasch wieder verloren zu haben, schien mehr, als ich ertragen konnte. Frauen glauben –oder tun wenigstens oft so –, daß unsere ganze Zärtlichkeit für sie unserem Begehren entspringt; daß wir sie lieben, wenn wir sie eine Zeitlang nicht besessen haben, und sie zurückstoßen, wenn wir befriedigt, oder besser gesagt erschöpft sind. An dieser Vorstellung ist nichts wahr, auch wenn oft ein solcher Eindruck erweckt wird. Wenn wir starr vor Verlangen sind, geben wir gern große Zärtlichkeit vor in der Hoffnung, dieses Verlangen erfüllen zu können; aber zu keinem anderen Zeitpunkt können wir so leicht zu Frauen brutal werden und so schwer bis auf das eine tief empfinden. Als ich durch den nächtlichen Garten wanderte, hatte ich kein körperliches Verlangen nach Dorcas (obwohl wir seit jener Nacht in der Festung des Dimarchi hinter dem Blutacker nicht mehr miteinander geschlafen hatten), weil ich im Seerosenboot meine überschäumende Männlichkeit manch liebes Mal in Jolenta ergossen hatte. Dennoch hätte ich Dorcas, hätte ich sie gefunden, mit Küssen bedeckt, während ich zu Jolenta, die ich bisher eher verabscheut hatte, eine gewisse Zuneigung gefaßt hatte.

Weder Dorcas noch Jolenta tauchten auf; ebenso wenig sah ich anrückende Soldaten oder auch nur Gäste, die zu unterhalten wir gekommen waren. Das Thiasus, das stand fest, fand in einem bestimmten Teil des Gartens statt, wovon ich mich nun weit entfernt hatte. Selbst jetzt noch bin ich mir im unklaren, wie weit das Haus Absolut reicht. Es existieren Karten, diese sind aber unvollständig und widersprüchlich. Karten gibt es nicht vom Zweiten Haus, und sogar Vater Inire sagt mir, er habe längst viele seiner Geheimnisse vergessen. Beim Durchstreifen seiner schmalen Korridore bin ich keinen weißen Wölfen begegnet; allerdings bin ich auf Stiegen gestoßen, die in Gewölbe unter dem Fluß führen, und auf Bodentüren, durch die man in anscheinend unberührten Wald tritt. (Einige davon sind über der Erde mit verfallenen, halb überwucherten Marmorstelen markiert, andere ohne Kennzeichnung.) Wenn ich eine solche Tür geschlossen und mich voller Bedauern in die künstliche Luft, noch von den pflanzlichen Gerüchen des Wachstums und des Verrottens erfüllt, zurückgezogen habe, ist mir oft die Frage durch den Kopf gegangen, ob einer dieser Gänge bis zur Zitadelle führen mochte. Der alte Ultan hatte einmal angedeutet, daß sein Büchermagazin bis ins Haus Absolut reiche. Was soll das anderes heißen, als daß das Haus Absolut bis zu seinem Büchermagazin reicht? Es gibt im Zweiten Haus Teile, die den blinden Korridoren, worin ich nach Triskele gesucht habe, nicht unähnlich sind: vielleicht handelt es sich um dieselben Korridore; wenn dem so ist, ist mein Vorstoß damals riskanter gewesen, als ich geahnt habe.

Ob diese Überlegungen von mir nun auf Tatsachen beruhen oder nicht, in der Zeit, von der ich jetzt schreibe, habe ich nichts von alledem gewußt. In meiner Unbedarftheit hatte ich vermutet, daß die Grenzen des Hauses Absolut, die sich sowohl räumlich als auch zeitlich so viel weiter erstrecken, als der Uneingeweihte sich träumen ließe, genau abgesteckt wären, und daß ich mich ihnen näherte oder bald nähern würde oder sie bereits überschritten hätte. So wanderte ich die ganze Nacht in eine nördliche Richtung, die ich anhand der Sterne bestimmte. Und während meines Marsches hielt ich Rückschau auf mein Leben, wie ich es oft zu verhindern versucht hatte, wenn ich auf den Schlaf wartete. Wieder schwammen Drotte, Roche und ich in der klammen Zisterne unter dem Glockenturm; wieder tauschte ich Josephinas Spielzeugkobold durch den gestohlenen Frosch aus; wieder streckte ich die Hand aus und ergriff den Stiel der Axt, die den großen Vodalus getötet und somit die noch nicht inhaftierte Thecla gerettet hätte; wieder sah ich das scharlachrote Rinnsal unter Theclas Tür, Malrubius sich über mich beugen, Jonas in die Unendlichkeit zwischen den Dimensionen verschwinden. Ich spielte wieder mit Kieselsteinen im Hof neben der eingestürzten Ringmauer, während Thecla rasch vor den Hufen der berittenen Wache meines Vaters zur Seite sprang.

Längst hatte ich die letzte Balustrade hinter mir gelassen, als ich noch immer die Soldaten des Autarchen fürchtete; aber als ich nach einiger Zeit nicht einmal eine ferne Patrouille erspäht hatte, wurde ich ihnen gegenüber gleichgültig und hielt ihre Untüchtigkeit für einen Teil der allgemeinen Desorganisation, die mir so oft im Staate aufgefallen war. Mit oder ohne meine Hilfe würde Vodalus, wie ich dachte, solche Stümper gewiß vernichten – sogar jetzt schon, würde er nur zuschlagen.

Und dennoch war der Androgyne in der gelben Robe, der Vodalus’ Losung gekannt und die Botschaft entgegengenommen hatte, als hätte er darauf gewartet, zweifellos der Autarch gewesen, der Herr dieser Soldaten und sogar des ganzen Staates, insofern es einen Herrn duldete. Thecla hatte ihn oft gesehen; die Erinnerungen von Thecla waren nun die meinen, und er war’s. Wenn Vodalus schon gewonnen hatte, warum versteckte er sich dann weiterhin in seinem Unterschlupf? Oder war Vodalus lediglich ein Werkzeug des Autarchen? (Wenn ja, wieso bezeichnete Vodalus dann den Autarchen als Gefolgsmann?) Ich versuchte mir einzureden, daß alles, was sich im Bildersaal und in den übrigen Teilen des Zweiten Hauses zugetragen hatte, ein Traum gewesen sei; aber ich wußte, dem war nicht so, und ich war nicht mehr im Besitz des Stahls.

Als ich an Vodalus dachte, fiel mir die Klaue ein. Der Autarch selbst hatte darauf gedrungen, daß ich sie dem Priesterinnenorden namens Pelerinen zurückgäbe. Ich zog sie hervor. Sie glänzte leicht, strahlte jedoch nicht wie im Bergwerk der Menschenaffen und war auch nicht stumpf wie im Vorzimmer, wo Jonas und ich sie betrachtet hatten. Obschon sie in meiner flachen Hand lag, kam sie mir nun vor wie ein tiefer Teich blauen Wassers, klarer als die Zisterne und viel klarer als der Gyoll, in den ich eintauchen könnte … obzwar ich dabei auf eine unverständliche Weise nach oben tauchen würde. Was ich empfand, war zugleich bestärkend und beunruhigend, so daß ich sie wieder in den Stiefelschaft steckte und weiterging.

Im Morgengrauen beschritt ich einen schmalen Pfad, der sich durch einen Wald bahnte, welcher mit seiner verfallenden Üppigkeit sogar jenen vor der Mauer von Nessus übertraf. Die kühlen Farngewölbe, die ich dort gesehen hatte, fehlten hier, aber Ranken umschlangen mit fleischigen Fingern die Mahagoni- und Regenbäume wie lüsterne Hetären, reckten ihre langen Glieder den Wolken schwebenden Grüns zu und zogen an dicken, blumenübersäten Vorhängen. Vögel, für die ich keinen Namen wußte, sangen über mir, und einmal spähte von einer Astgabel, so hoch wie eine Turmspitze, ein Affe nach mir, der bis auf seine vier Hände ein verhutzeltes, rotbärtiges Männchen in einem Pelz hätte sein können. Als ich keinen Schritt mehr zu gehen vermochte, fand ich mir ein trockenes, schattiges Plätzchen zwischen säulendicken Wurzeln und hüllte mich in meinen Mantel.