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Oft mußte ich dem Schlaf nachspüren, als wäre er die ungreifbarste aller Schimären, halb Legende, halb Luft. Nun überfiel er mich. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, stand ich wieder dem irrsinnigen Riesen gegenüber; nun allerdings nicht auf der Bühne, sondern auf einem schmalen Wall. Auf einer Seite brannten die Fackeln eines Heeres. Auf der anderen endete der Steilhang in einem großen See, welcher gleichzeitig der azurblaue Teich der Klaue war und nicht war. Baldanders holte mit seiner schrecklichen Fackel aus, und ich war irgendwie die kindliche Gestalt geworden, die ich am Meeresgrund gesehen hatte. Die gigantischen Frauen, dachte ich, konnten nicht weit sein. Die Keule fuhr krachend nieder.

Es war heller Nachmittag, und eine Karawane feuerroter Ameisen zog über meine Brust. Nachdem ich ein, zwei Wachen zwischen dem hellen Laubwerk dieses edlen, wenn auch dem Untergang geweihten Waldes gewandert war, stieß ich auf einen breiteren Weg, und nach einer weiteren Wache (als die Schatten schon länger wurden) blieb ich stehen, schnupperte und stellte fest, daß der Geruch, den ich aufgespürt hatte, tatsächlich von Rauch stammte. Da ich vor Hunger umkam, eilte ich voran.

XXVI

Trennung

Wo der Weg einen zweiten kreuzte, saßen vier Leute um ein Feuerchen. Zunächst erkannte ich Jolenta – ihre Aura von Schönheit ließ die Lichtung wie ein Paradies erscheinen. Fast im gleichen Augenblick erkannte mich Dorcas und lief mir entgegen, um mich zu küssen, wobei ich über Baldanders breiter Schulter Dr. Talos’ füchsisches Gesicht erspähte.

Der Riese, der mir sofort hätte bekannt vorkommen müssen, war beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sein Kopf war mit schmutzigen Binden umwickelt, und anstelle des weiten, schwarzen Mantels, den er getragen hatte, bedeckte seinen breiten Rücken eine klebrige Salbe, die wie Tonerde aussah und wie fauliges Wasser roch.

»Wie schön, daß wir uns treffen, endlich treffen!« rief Dr. Talos. »Wir haben uns alle gesorgt, was aus dir geworden ist.« Baldanders gab mit einem kleinen Kopfnicken zu verstehen, daß es eigentlich Dorcas sei, die sich gesorgt habe, was ich mir wohl auch ohne seinen Hinweis hätte denken können.

»Ich lief davon«, erklärte ich, »genauso wie Dorcas. Aber daß ihr übrigen nicht umgekommen seid, das erstaunt mich.«

»Wir wären’s um ein Haar«, gestand der Doktor nickend.

Jolenta zuckte die Achseln, aus dieser einfachen Bewegung eine exquisite Zeremonie machend. »Auch ich lief davon.« Sie schmiegte ihre gewaltigen Brüste in die hohlen Hände. »Aber ich bin, glaube ich, nicht zum Laufen geschaffen, gelt? Jedenfalls stieß ich im Dunkeln bald mit einem Beglückten zusammen, der mir sagte, ich brauchte nicht mehr zu rennen, er beschütze mich. Aber dann kamen einige Spahis – ich wünschte, ich könnte ihre Tiere eines Tages vor meine Kutsche spannen lassen, sie waren sehr schön – und sie hatten einen hohen Würdenträger von der Sorte bei sich, der sich nichts aus Frauen macht.

Ich hatte gehofft, sie würden mich zum Autarchen bringen – fast so wie auf der Bühne. Aber sie schickten meinen Beglückten fort und brachten mich statt dessen zurück zum Theater, wo er«, sie deutete auf Baldanders, »und der Doktor waren. Der Doktor legte ihm eine Salbe auf, und die Soldaten wollten uns töten, obschon ich ihnen ansehen konnte, daß es ihnen gar nicht lieb war, mich töten zu müssen. Dann ließen sie uns gehen, und hier sind wir nun.«

Dr. Talos ergänzte: »Wir fanden Dorcas im Morgengrauen. Oder besser gesagt, sie fand uns, woraufhin wir uns langsam auf den Weg in die Berge machten. Langsam, weil Baldanders trotz seiner Verletzungen der einzige ist, der unser Gepäck tragen kann. Obschon wir viel weggeworfen haben, gibt es doch einiges, was wir behalten müssen.«

Ich drückte mein Erstaunen darüber aus, daß Baldanders, den ich für tot gehalten hatte, so glimpflich davongekommen sei.

»Dr. Talos hielt ihn auf«, sagte Dorcas. »Das stimmt doch, Doktor? So konnte er überwältigt werden. Ein Wunder, daß beide nicht tot sind.«

»Wie ihr seht«, erklärte Dr. Talos lächelnd, »wandeln wir noch unter den Lebenden. Und obgleich wir arg mitgenommen sind, sind wir dennoch reich. Zeig Severian unser Geld, Baldanders!«

Gequält setzte der Riese sich um und zog einen dicken Lederbeutel hervor. Nach einem Blick zum Doktor, als erwartete er weitere Weisungen, löste er die Riemen und leerte in seine große Hand einen Haufen frischgeprägter Chrysos.

Dr. Talos nahm eine der Münzen und hielt sie hoch, so daß sie im Sonnenschein funkelte. »Wie lange, schätzt du, baut ein Mann aus den Fischerdörfern um den See Diaturna dafür Mauern?«

Ich antwortete: »Mindestens ein Jahr, kann ich mir vorstellen.«

»Zwei! Jeden Tag, ob Winter oder Sommer, Regen oder Sonnenschein, vorausgesetzt, wir zahlen ihn sparsam in Kupfermünzen aus, was wir auch vorhaben. Wir werden fünfzig Mann zum Wiederaufbau unseres Heims haben. Warte, bis du es erst wieder siehst!«

Baldanders meinte schwerfällig: »Falls sie arbeiten wollen.«

Der rothaarige Doktor wirbelte herum. »Das werden sie! Ich habe seit dem letzten Mal dazugelernt, laß dir das gesagt sein!«

Ich wandte ein: »Vermutlich gehört ein Teil des Geldes mir und ein Teil diesen Damen – nicht wahr?«

Dr. Talos wurde wieder ruhig. »O ja. Hart’ ich vergessen. Die Damen haben ihren Anteil schon bekommen. Die Hälfte von dem hier ist dein. Schließlich hätten wir’s ohne dich nicht.« Er raffte das Geld aus der Hand des Riesen zusammen und schichtete es vor sich auf dem Boden in zwei Stößen auf.

Ich vermutete, er meinte damit nur, daß ich zum Erfolg der Aufführung beigetragen hatte, was auch der Fall gewesen war. Aber Dorcas, die wohl annahm, daß mehr hinter Dr. Talos’ anerkennenden Worten für mich steckte, fragte: »Warum sagst du das?«

Ein Lächeln trat in das füchsische Gesicht. »Severian hat hochgestellte Freunde. Ich gebe zu, daß ich mir das schon seit einiger Zeit gedacht habe – ein Folterer, der wie ein Vagabund durch die Welt wandert, das hat nicht einmal Baldanders ohne weiteres schlucken können, und ich habe, fürchte ich, eine übermäßig enge Kehle.«

»Habe ich solche Freunde«, erwiderte ich, »bin ich mir dessen nicht bewußt.«

Die Stöße waren nun gleich hoch, und der Doktor schob den einen zu mir und den anderen zurück zum Riesen. »Als ich dich bei Baldanders im Bett fand, dachte ich zunächst, du seist geschickt worden, uns vor der Aufführung des Spiels zu warnen – immerhin übt es in gewisser Hinsicht, wie festzustellen ist, wenigstens dem Anschein nach Kritik an der Autarchie.«

»Wie klein wenig«, lispelte Jolenta spöttisch.

»Einen Folterer aus der Zitadelle auf ein paar herumziehende Scharlatane zu hetzen, das war’ indes eine lächerlich übertriebene Maßnahme. Dann wurde mir klar, daß wir, gerade weil wir dieses Stück spielen, als Tarnung für dich dienen. Wenige würden auf den Gedanken kommen, daß ein Diener des Autarchen sich einem solchen Unternehmen anschlösse. Ich fügte die Rolle des Vertrauten ein, um dich besser zu verbergen, indem deine Tracht eine Daseinsberechtigung erhielte.«

»Ich weiß von alledem nichts«, versetzte ich.

»Natürlich. Ich will dich keinesfalls zu einem Vertrauensbruch zwingen. Aber als wir gestern unsere Bühne aufbauten, kam ein hoher Hofbeamter des Hauses Absolut – ein Agamit, glaube ich, und solche stehen dem Ohr der Macht stets nahe – und erkundigte sich, ob wir die Truppe seien, in der du auftretest, und ob du zu sprechen seist. Du und Jolenta hattet euch gerade entfernt, aber ich bejahte seine Frage. Sodann wollte er wissen, wie hoch dein Anteil an unseren Einnahmen sei, und nachdem ich ihm das erläutert hatte, erklärte er, er sei angewiesen, uns für die nächtliche Aufführung zu bezahlen. Ein großes Glück, wie sich herausstellte, da dieser Trottel aufs Publikum losging.«