Das war einer der wenigen Anlässe, wo ich erlebte, daß Baldanders sich durch die Sticheleien seines Arztes gekränkt fühlte. Obschon es ihm eindeutig große Schmerzen bereitete, rutschte er mit seinem mächtigen Leib herum, bis er uns den Rücken zukehrte.
Dorcas hatte mir gesagt, daß ich allein gewesen sei, als wir in Dr. Talos’ Zelt schliefen. Nun fühlte ich, daß dem Riesen so zumute war; daß für ihn die Lichtung nur ihn und bestimmtes Getier barg, welches er bald müde wurde.
»Er hat für seine Hitzköpfigkeit gebüßt«, sagte ich. »Seine Verbrennungen sehen schlimm aus.«
Der Doktor nickte. »Ja, Baldanders hatte Glück. Die Hierodulen stellten ihre Strahlen klein, um ihn lediglich zurückzutreiben und nicht umzubringen. Er verdankt sein Leben ihrer Nachsicht und wird sich regenerieren.«
Dorcas murmelte: »Gesund werden, meinst du? Glaub’ ich auch. Er dauert mich mehr, als ich ausdrücken kann.«
»Du hast ein gütiges Herz. Zu gütig, vielleicht. Aber Baldanders ist noch im Wachstum, und Kinder im Wachstum kommen schnell wieder auf die Beine.«
»Im Wachstum?« fragte ich. »Sein Haar ist zum Teil schon grau.«
Der Doktor lächelte. »Dann wird er halt einfach nur noch grauer. Aber nun, liebe Freunde«, er stand auf und klopfte den Staub von seinen Hosen, »nun sind wir, wie ein Dichter treffend sagt, am Scheideweg angekommen, der unsere Geschicke trennt. Wir haben hier Rast gemacht, Severian, nicht nur weil wir müde gewesen sind, sondern weil der eine Weg nach Thrax, deinem Ziel, führt, der andre aber zum See Diaturna, unsrer Heimat. Nur ungern hätte ich diese Stelle, die letzte Möglichkeit, dir zu begegnen, passiert, ohne unseren Gewinn gerecht zu teilen – aber das ist nun getan. Solltest du wieder mit deinem Wohltäter im Haus Absolut in Verbindung treten, würdest du dann einräumen, daß du deinen rechtmäßigen Anteil erhalten hast?«
Der Stoß Chrysos lag noch vor mir auf dem Boden. »Das ist hundertmal mehr, als ich mir erträumt hätte«, erwiderte ich. »Ja, gewiß.« Ich las die Münzen auf und verstaute sie in meiner Gürteltasche.
Dorcas und Jolenta tauschten Blicke aus, und Dorcas erklärte: »Ich geh’ mit Severian nach Thrax, wenn Severian dorthin geht.«
Jolenta hielt dem Doktor die Hand hin, als sollte er ihr beim Aufstehen helfen.
»Baldanders und ich ziehen allein weiter«, sagte er, »und werden die ganze Nacht marschieren. Wir werden euch alle vermissen, aber die Zeit der Trennung ist genaht. Dorcas, mein Kind, ich bin entzückt, daß du einen Beschützer hast.« (Jolentas Hand ruhte inzwischen auf seinem Oberschenkel.) »Komm, Baldanders, wir müssen aufbrechen!«
Der Riese raffte sich von der Erde auf, was ihm, wie zu sehen war, große Pein bereitete, auch wenn er keinen Seufzer tat. Seine Binden waren feucht von Schweiß und Blut. Ich wußte, was ich zu tun hatte, und sagte: »Baldanders und ich müssen kurz unter vier Augen miteinander sprechen. Darf ich euch also bitten, euch an die hundert Schritte zu entfernen?«
Die Damen setzten sich in Bewegung, wobei Dorcas über den einen und Jolenta (der Dorcas beim Aufstehen geholfen hatte) über den anderen Weg davongingen; Dr. Talos allerdings blieb, wo er war, bis ich meine Bitte wiederholte.
»Du willst, daß auch ich gehe? Das ist recht sinnlos. Baldanders wird mir alles sagen, was du ihm gesagt hast, sobald wir wieder beisammen sind. Jolenta! Komm her, Liebste!«
»Sie leistet nur meiner Bitte Folge, sich ein wenig zu entfernen.«
»Ja, aber sie geht in die falsche Richtung, und das kann ich nicht dulden. Jolenta!«
»Doktor, ich will deinem Freund – oder deinem Sklaven oder was immer er ist – nur helfen.«
Was für eine Überraschung, als unter dem Turban aus Verbänden Baldanders tiefe Stimme ertönte: »Ich bin sein Herr!«
»Ganz genau«, sagte der Doktor, während er den Haufen Chrysos, den er Baldanders zugeschoben hatte, in die Hosentasche des Riesen steckte.
Jolenta humpelte zu uns zurück. Tränen rannen über ihr liebliches Antlitz. »Kann ich nicht mit euch gehen, Doktor?«
»Natürlich nicht«, entgegnete er so selbstverständlich, als hätte ein Kind um ein zweites Stück Kuchen gebeten. Jolenta brach vor seinen Füßen zusammen.
Ich sah zum Riesen auf. »Baldanders, ich kann dir helfen. Ein Freund von mir hatte sich viel, viel schlimmer als du verbrannt, und ich konnte ihm helfen. Aber ich will’s nicht tun, wenn Dr. Talos und Jolenta zusehn. Gehen wir doch –nur ein kleines Stück weit – zurück auf dem Weg zum Haus Absolut.«
Bedächtig drehte der Riese den Kopf hin und her.
»Er weiß, was für eine Linderung du ihm anbietest«, sagte Dr. Talos lachend. »Er selbst hat sie so vielen zuteil werden lassen, aber er hängt zu sehr am Leben.«
»Ich biete ihm Leben – nicht den Tod.«
»Ja?« Der Doktor zog eine Augenbraue nach oben. »Wo ist deine Freundin?«
Der Riese hatte die Griffe seines Karrens in die Hand genommen. »Baldanders«, sagte ich, »weißt du, wer der Schlichter gewesen ist?«
»Das ist so lange her«, antwortete Baldanders, »es spielt keine Rolle mehr.« Er ging los in die Richtung, die Dorcas nicht eingeschlagen hatte. Dr. Talos folgte ihm ein paar Schritte, und als Jolenta nicht von seinem Arm lassen wollte, blieb er stehen.
»Severian, du hast, wie du erzählt hast, schon eine stattliche Anzahl von Gefangenen bewacht. Wenn Baldanders dir noch einen Chrysos gibt, würdest du dann dieses Geschöpf festhalten, bis wir einen ordentlichen Vorsprung haben?«
Ich war noch zutiefst enttäuscht, dem leidenden Baldanders nicht helfen zu können, überwand mich aber zur Bemerkung: »Als Mitglied der Zunft darf ich nur von der rechtmäßigen Obrigkeit Lohn annehmen.«
»Dann bringen wir sie einfach um, sind wir erst außer Sicht.«
»Das ist eine Sache zwischen euch und ihr«, versetzte ich und eilte hinter Dorcas her.
Kaum hatte ich sie eingeholt, vernahmen wir Jolentas gellende Schreie. Dorcas hielt inne und drückte meinen Arm fester, als sie fragte, was das gewesen war; ich erzählte ihr von der Drohung des Doktors.
»Und du hast sie allein gelassen?«
»Ich habe nicht geglaubt, daß es sein Ernst gewesen ist.«
Während ich das sagte, hatten wir kehrt gemacht und gingen wieder zurück. Als wir noch keine zehn Schritt zurückgelegt hatten, wurde das Geschrei von einer so tiefen Stille abgelöst, daß wir das Rascheln eines fallenden Blattes hören konnten. Wir fingen zu laufen an; als wir die Kreuzung erreichten, war ich mir sicher, daß wir zu spät kämen, und eilte, um bei der Wahrheit zu bleiben, nur weiter, weil ich wußte, Dorcas wäre andernfalls von mir enttäuscht.
Es war ein Trugschluß, Jolenta für tot zu halten. Als wir um eine Wegbiegung kamen, sah ich, daß sie uns entgegenrannte – die Knie zusammengekniffen, als hemmten die üppigen Oberschenkel die Beine in der Bewegung, die Arme über den Brüsten gekreuzt, um sie zu stützen. Ihr prächtiges rotgoldenes Haar hing ihr über die Augen, und das feine Organzahemd war zerfetzt. Als sie sich in Dorcas’ Arme warf, fiel sie in Ohnmacht. »Diese Teufel haben sie geschlagen«, empörte sich Dorcas.
»Noch vor einem Augenblick befürchteten wir, sie würden sie umbringen.« Ich sah mir die Striemen auf dem wunderschönen Rücken dieser Dame an. »Rühren wohl vom Stock des Doktors her. Sie hat Glück, daß er nicht Baldanders auf sie angesetzt hat.«
»Was können wir denn tun?«
»Probieren wir das.« Ich angelte die Klaue aus meinem Stiefelschaft. »Erinnerst du dich an das Ding, das wir in meiner Gürteltasche gefunden haben? Das deiner Meinung nach kein richtiger Edelstein gewesen ist? Es ist das hier gewesen und kann offenbar manchmal Verletzungen heilen. Ich wollte es bei Baldanders versuchen, aber er ließ mich nicht.«