Alles wurde wieder still – stiller denn je zuvor in einer Nacht. Ich wartete ab und drehte langsam den Kopf, um den Rufer ausfindig zu machen, obwohl es vorteilhafter gewesen wäre, ihm den Eindruck zu geben, ich würde seinen Standort bereits kennen. Dorcas regte sich und ächzte, aber weder sie noch Jolenta wurden wach; bis auf das Knistern des Feuers, des Rascheln des Morgenwinds im Laub und das Plätschern des Wassers war nichts zu hören.
»Wo bist du?« flüsterte ich, erhielt aber keine Antwort. Ein Fisch sprang, silbrig spritzend, und alles war wieder still.
»Severian!«
So tief sie auch klang, es war eine Frauenstimme, vor Leidenschaft bebend, süß vor Verlangen; Agia kam mir in den Sinn, und ich steckte das Schwert nicht in die Scheide.
»Die Sandbank …«
Obschon ich befürchtete, man wolle mit dieser List nur bezwecken, daß ich den Bäumen den Rücken zukehrte, ließ ich meinen Blick über den Fluß gleiten, bis ich sie, etwa zweihundert Schritt vom Feuer entfernt, sah.
»Komm zu mir!«
Es war keine List, zumindest keine solche, wie ich zunächst angenommen hatte. Die Stimme kam, ein Stück flußabwärts, vom Wasser.
Komm! Bitte! Ich kann dich nicht hören von dort, wo du stehst.«
Ich erwiderte: »Ich habe nichts gesagt«, erhielt aber keine Antwort. Da ich Dorcas und Jolenta ungern allein ließ, zauderte ich.
»Bitte! Wenn die Sonne dieses Wasser erreicht, muß ich gehen. Vielleicht bietet sich nie mehr eine zweite Gelegenheit.«
Der Fluß war an der Sandbank breiter als darüber oder darunter, und ich konnte auf dem gelben Sand trockenen Fußes fast bis zur Mitte gehen. Zu meiner Linken wurde das grünliche Wasser allmählich schmaler und tiefer. Zu meiner rechten lag eine etwa zwanzig Schritt breite, tiefe Stelle, aus der das Wasser schnell, aber glatt abfloß. Terminus Est mit beiden Händen umschlossen, die eckige Spitze zwischen meinen Füßen eingepflanzt, stand ich auf dem Sand und sagte: »Ich bin hier. Wo bist du? Kannst du mich jetzt hören?«
Als wollte der Fluß selbst mir antworten, sprangen gleichzeitig drei Fische ein erstes und noch ein zweites Mal auf und klatschten der Reihe nach weich auf die Oberfläche. Eine Mokassinschlange, deren braunen Rücken verkettete golden-schwarze Ringe zierten, glitt fast bis an meine Stiefelspitze heran, wandte sich in drohender Haltung den springenden Fischen zu und zischelte, woraufhin sie sich zur Furt an der oberen Seite der Bank schlängelte und mit langen Windungen verschwand. Der Umfang ihres Leibes war so dick wie mein Unterarm gewesen.
»Fürchte dich nicht! Schau! Sieh mich an! Wisse, daß ich dir kein Leid zufügen will!«
So grün das Wasser auch gewesen war, es wurde noch grüner. Abertausend Tentakel schlangen und ringelten sich dort, ohne je die Oberfläche zu durchstoßen. Während ich dies betrachtete – zu hingerissen, um Furcht zu empfinden –, erschien mitten darin eine weiße Scheibe von drei Schritt Durchmesser, die langsam emporstieg.
Erst als ich wenige Spannen vor der Kräuselung stand, erkannte ich, was es war – und dann auch nur, weil es Augen aufschlug. Ein Gesicht blickte aus dem Wasser zu mir auf, das Gesicht einer Frau, die Baldanders wie ein Spielzeug auf Armen oder Knien gewiegt hätte. Ihre Augen waren scharlachrot, und den Mund säumten so fleischige, karmesinrote Lippen, daß ich sie zunächst gar nicht für Lippen gehalten hatte. Hinter ihnen stand ein Heer spitzer Zähne; die grünen Fangarme, die ihr Gesicht umrahmten, waren ihr schwimmendes Haar.
»Ich bin deinetwegen hier, Severian«, sagte sie. »Nein, du träumst nicht!«
XXVIII
Die Odaliske von Abaia
Ich sagte: »Einmal habe ich von dir geträumt.« Undeutlich sah ich im Wasser ihren nackten Leib, kolossal und glänzend.
»Wir beobachteten den Riesen und fanden dich so. Aber, ach, so schnell verloren wir dich wieder aus den Augen, als er und du euch trennten. Du glaubtest damals, gehaßt zu werden, und wußtest nicht, wie sehr du geliebt wurdest. Die Meere der ganzen Welt bebten mit unserer Trauer für dich, und die Wellen weinten salzige Tränen und warfen sich verzweifelt gegen die Felsen.«
»Und was willst du von mir?«
»Nur deine Liebe. Nur deine Liebe.«
Ihre rechte Hand hob sich, während sie sprach, zur Oberfläche und schwamm dort wie ein Floß aus fünf weißen Stämmen. Hier lag wahrhaftig die Hand des Ungeheuers, deren Fingerspitze die Karte seines Inselreiches barg.
»Bin ich nicht schön? Wo hast du eine reinere Haut als die meine gesehen, wo rötere Lippen?«
»Du bist atemberaubend«, gab ich ehrlich zu. »Aber darf ich fragen, warum ihr Baldanders beobachtet habt, als ich ihm begegnete? Und warum nicht mich, bin ich es offenbar doch, der euch am Herzen liegt?«
»Wir beobachten den Riesen, weil er wächst. Darin ist er wie wir und unser Vater und Gemahl Abaia. Zuletzt muß er ins Wasser kommen, wenn das Land ihn nicht mehr tragen kann. Du aber darfst sofort kommen, wenn du willst. Du wirst – kraft unserer Gabe –so mühelos atmen, wie du den dünnen, schwachen Wind dort atmest, und du kannst, wann immer du willst, an Land zurückkehren und deine Krone aufsetzen. Dieser Fluß Cephissus mündet in den Gyoll, und der Gyoll in das friedliche Meer. Dort kannst du auf dem Rücken eines Delphins durch die flutumspülten Korallen- und Perlenbänke reiten. Meine Schwestern und ich zeigen dir die vergessenen Städte von einst, wo hundert eingeschlossene Generationen deines Geschlechts geboren wurden und gestorben sind, als ihr da oben sie vergessen habt.«
»Ich habe keine Krone zum Aufsetzen«, entgegnete ich. »Du verwechselst mich offensichtlich mit jemand ganz anderem.«
»Alle von uns werden da sein in den rot-weißen Gefilden, wo der Löwenfisch schwärmt.«
Während die Undine sprach, hob sie langsam das Kinn und ließ das Haupt zurückfallen, bis ihr ganzes Antlitz waagrecht lag und gerade noch untergetaucht war. Ihr weißer Hals folgte, und rotkuppige Brüste durchstießen die Oberfläche, so daß kleine Wellen kosend ihre Seiten leckten. Abertausend Luftblasen funkelten im Wasser. Binnen weniger Atemzüge lag sie der Länge nach im Strom ausgestreckt, von den alabasternen Füßen bis zum fließenden Haar mindestens vierzig Ellen messend.
Keiner, der dies liest, wird verstehen, wie ich mich zu einem solch monströsen Geschöpf konnte hingezogen fühlen; dennoch wollte ich ihr glauben, mit ihr gehen, wie ein Ertrinkender verzweifelt nach Luft schnappt. Hätte ich ihren Zusagen ganz vertraut, hätte ich mich in diesem Augenblick ins Wasser gestürzt und alles andere vergessen.
»Du hast eine Krone, auch wenn du es noch nicht weißt. Glaubst du, daß wir, die wir in so vielen Wassern schwimmen –selbst zwischen den Sternen – auf einen einzigen Moment begrenzt wären? Wir haben gesehen, was du werden wirst, und was du gewesen bist. Erst gestern lagst du in meiner hohlen Hand, und ich hob dich über das Gewirr der Schlingpflanzen, auf daß du nicht im Gyoll ertränkest, und rettete dich für diesen Augenblick.«
»Gib mir die Gabe, Wasser zu atmen!« sagte ich. »Und laß es mich auf der anderen Seite der Sandbank probieren.
Zeigt sich, daß du die Wahrheit sprichst, will ich mit dir gehen.«
Ich beobachtete, wie die gewaltigen Lippen sich auftaten. Ich kann nicht sagen, wie laut sie im Fluß gesprochen hat, auf daß ich sie hörte, wo ich in der Luft gestanden habe; aber wiederum sind bei ihren Worten Fische aufgesprungen.
»Es geht nicht ganz so einfach. Du mußt im Vertrauen mit mir kommen, obgleich es nur einen Moment dauert. Komm!«