Sie streckte die Arme nach mir aus, und gleichzeitig vernahm ich Dorcas’ gequälten Hilferuf.
Ich wirbelte herum, um zu ihr zu eilen. Dennoch wäre ich wohl, hätte die Undine nur gewartet, zurückgekehrt. Sie wartete aber nicht. Der ganze Fluß schien sich aus seinem Bett zu heben, tosend wie eine Brandung. Es war, als ergösse sich ein See über meinen Kopf, plumpste wie ein Stein auf mich und wirbelte mich in seinen Strudeln umher wie einen Stock. Im nächsten Augenblick, als das Wasser zurückging, fand ich mich hoch auf dem Ufer, völlig durchnäßt und arg blessiert und ohne Schwert. Fünfzig Schritt von mir entfernt bäumte sich der weiße Leib der Undine halb aus dem Fluß. Ohne das tragende Wasser hing das Fleisch schlaff von den Knochen, die unter dem Gewicht bald zu bersten drohten, und das Haar fiel in glatten Strähnen bis zum Sand herab. Ich bemerkte, daß Wasser und Blut aus ihren Nüstern rannen.
Ich floh, und als ich Dorcas bei unserem Feuer erreichte, war von der Udine bis auf den aufgewirbelten Schlamm unter der Sandbank, der das Wasser trübte, nichts mehr zu sehen.
Dorcas Gesicht war fast genauso weiß. »Was war das?« flüsterte sie. »Wo warst du?«
»Du hast’s also gesehn. Ich befürchtete …«
»Wie schrecklich.« Dorcas hatte sich in meine Arme geworfen und schmiegte sich an mich. »Entsetzlich.«
»Aber deswegen hast du doch nicht gerufen, oder? Du konntest sie von hier erst sehen, als sie aus dem Wasser stieg.«
Dorcas zeigte stumm auf die andere Seite des Feuers, und ich entdeckte eine Blutlache, wo Jolenta lag.
Es waren in ihrem linken Handgelenk zwei schmale, etwa daumenlange Schnitte. Obwohl ich sie mit der Klaue berührte, wollte die Blutung nicht aufhören. Nachdem mehrere Verbände, die wir aus Dorcas’ spärlichem Kleidervorrat gerissen hatten, durchnäßt waren, kochte ich in einem kleinen Tiegel, den sie bei sich hatte, Nadel und Faden aus und nähte die Wundränder zusammen. Während all dessen war Jolenta anscheinend halb bewußtlos; hin und wieder tat sie die Augen auf, um sie sogleich wieder zu schließen, nahm uns aber nicht wahr. Sie sprach nur ein einziges Mal und sagte: »Nun siehst du, daß er, den du für deinen Gott gehalten, alles anrät und billigt, was ich dir verlockend angetragen. Ehe die Neue Sonne aufgeht, wollen wir einen neuen Anfang machen.« Damals erkannte ich nicht, daß es sich um einen Text ihrer Rolle handelte.
Als die Wunde nicht mehr blutete und wir sie an eine saubere Stelle umgelegt und sie gereinigt hatten, kehrte ich dorthin zurück, wo ich aufgeschlagen war, als das Wasser abfloß, und entdeckte nach einigem Suchen Terminus Est, das nur mit dem Knauf und einem zwei Finger breiten Stück des Heftes aus dem nassen Sand ragte.
Ich säuberte und ölte die Klinge ein, und Dorcas und ich besprachen uns, was zu tun sei. Ich erzählte ihr von meinem Traum in der Nacht vor der Begegnung mit Baldanders und Dr. Talos und dann von der Stimme der Undine, die ich vernommen hatte, während sie und Jolenta schliefen, und was sie gesagt hatte.
»Ist sie noch da, was meinst du? Du warst beim Schwertsuchen unten. Hättest du sie durchs Wasser sehen können, wenn sie auf dem Grund gewesen wäre?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist sie wohl nicht. Sie hat sich irgendwie verletzt, als sie das Wasser verlassen wollte, um mich aufzuhalten, und anhand ihrer bleichen Haut schließe ich, daß sie unter der Sonne eines heiteren Tages keinesfalls lange in irgendeinem seichteren Gewässer als dem Gyoll bliebe. Aber nein, wäre sie da gewesen, hätt’ ich sie wohl nicht gesehen – der Fluß war zu aufgewühlt.«
Dorcas, die nie reizender gewirkt hatte als in diesem Moment, als sie, das Kinn auf die Knie gestützt, auf der Erde saß, schwieg eine Weile und betrachtete offenbar die östlichen Wolken, welche die immerwährend geheimnisvolle Hoffnung auf Dämmerung kirsch- und feuerrot erglühen ließ. Schließlich sagte sie: »Heftigst gewollt muß sie dich haben.«
»Um sogar aus dem Wasser zu steigen? Ich glaube, sie muß an Land gewesen sein, bevor sie so groß geworden ist, und hat wohl für einen Moment vergessen, daß sie’s nicht mehr könnte.«
»Aber zunächst schwamm sie den schmutzigen Gyoll und dann dieses schmale Flüßchen herauf. Sie hoffte wohl, dich beim Überqueren ergreifen zu können, kam aber nicht, wie sie merkte, weiter als bis zur Sandbank, also rief sie dich zu sich hinunter. Insgesamt war’s wohl keine angenehme Reise für jemand, der es gewohnt ist, zwischen den Sternen zu schwimmen.«
»Du glaubst ihr also?«
»Als ich bei Dr. Talos war und du fort warst, sagten er und Jolenta mir immer, wie einfältig ich sei, Leuten zu glauben, die wir unterwegs trafen, und auch das zu glauben, was Baldanders und sie selbst von sich gaben. Wie dem auch sei, ich glaube sogar, daß Leute, die man Lügner heißt, viel öfter die Wahrheit sagen als lügen. Ist doch viel einfacher! Wenn diese Geschichte von deiner Rettung nicht wahr wäre, warum sie dann erzählen? Daran erinnert zu werden, hätte dir nur Angst machen können. Und wenn sie nicht zwischen den Sternen schwimmt, warum so etwas überhaupt erwähnen? Etwas bedrückt dich trotz allem. Ich kann’s dir ansehn. Was ist’s?«
Ich wollte ihr nicht meine Begegnung mit dem Autarchen in allen Einzelheiten schildern, also sagte ich: »Ich hab’, ’s ist noch gar nicht lang her, ein Bild gesehn – in einem Buch –von einem Wesen, das in der Kluft lebt. Es hatte Schwingen.
Keine Vogelschwingen, sondern gewaltige, lückenlose Flügel aus einem dünnen, pigmentierten Material. Flügel, die das Sternenlicht vorantragen könnte.«
Dorcas sah mich gespannt an. »Ist es in deinem braunen Buch?«
»Nein, in einem anderen. Ich hab’s nicht hier.«
»Macht auch nichts. Dabei fällt mir ein, wir wollten nachschauen, was dein braunes Buch über den Schlichter zu sagen hat. Hast du es noch?«
Ich hatte es noch und zog es hervor. Es war feucht von meinem Wasserbad, so daß ich es öffnete und an eine Stelle legte, wo die Sonne es beschiene und der Wind es bestriche, der aufgekommen war, als das Antlitz der Urth wieder in das ihre blickte. Während wir uns unterhielten, wurden die Seiten wie von unsichtbarer Hand sachte umgeblättert, so daß sich zwischen unseren Worten Bilder von Männern und Frauen und Ungetümen in mein Gedächtnis einprägten, wo sie noch jetzt verwahrt sind. Hin und wieder stachen mir auch Satzfetzen und ganze Abschnitte ins Auge, wenn die metallisch glänzende Tinte im Licht aufblitzte. »Seelenloser Krieger!« – »hellgelb« – »Hinrichtung durch Ertränken.« Später: »Diese Zeit ist die alte Zeit, da die Welt alt ist.« Und: »Die Hölle hat weder Schranken, noch ist sie zu begrenzen; denn wo wir sind, das ist die Hölle, und wo die Hölle ist, da müssen wir sein.«
»Willst du es jetzt nicht lesen?« fragte Dorcas.
»Nein. Ich will wissen, was Jolenta geschehen ist.«
»Ich weiß es nicht. Ich schlief und träumte … was ich immer träume. Und ich ging in den Spielzeugladen. In den Wandregalen waren Puppen, und Puppen saßen auf der Mauerkrönung eines Schachtes in der Mitte des Fußbodens. Ich überlegte, daß mein Kindchen zu jung für Puppen sei, aber sie waren so hübsch, und ich hatte seit meiner Kindheit keine mehr gehabt; also würde ich eine kaufen und für das Kindchen aufheben und könnte sie bis dahin manchmal vielleicht hervorholen und betrachten und vor den Spiegel in meinem Zimmer stellen. Ich zeigte auf die schönste von allen, was eine von denjenigen auf der Mauerkrönung war, und als der Verkäufer sie mir holte, sah ich, daß sie Jolenta war, und sie fiel ihm aus der Hand. Sie fiel sehr tief, auf das schwarze Wasser zu. Dann wurde ich wach. Selbstverständlich sah ich nach ihr, ob alles in Ordnung wäre …«
»Und du sahst sie bluten?«
Dorcas nickte, und ihr hellblondes Haar glänzte im Licht. »Also rief ich nach dir – zwei Mal – und sah dich auf der Sandbank, wo dieses Ding dir nachsetzte.«