»Kein Grund, so blaß zu werden«, sagte ich. »Jolenta wurde von einem Tier gebissen, das ist klar. Ich weiß nicht, von was für einem, aber der Wunde nach zu schließen war’s ein recht kleines, vor dem man sich nicht mehr zu fürchten braucht wie vor jedem kleinen Tier mit scharfen Zähnen und schlechten Anlagen.«
»Severian, ich habe gehört, weiter nördlich gebe es blutsaugende Fledermäuse. Als ich noch ein Kind war, machte man mir immer Angst mit Geschichten darüber. Später verirrte sich einmal eine gewöhnliche Fledermaus in unser Haus. Jemand brachte sie um, und ich fragte meinen Vater, ob es eine blutsaugende Fledermaus sei und ob es so etwas wirklich gäbe. Er sagte, die gebe es, aber nur im Norden, in den dampfenden Urwäldern der Weltmitte. Sie würden schlafende Menschen und weidende Tiere bei Nacht beißen, und der Biß sei giftig, so daß die Wunde nicht zu bluten aufhöre.«
Dorcas hielt, in die Bäume blickend, inne. »Mein Vater sagte, die Stadt, einst eine Autochthonensiedlung an der Gyollmündung, krieche seit ihren Anfängen entlang des Flusses nordwärts, und wie schlimm es wäre, würden sie erst einmal die Gegend erreichen, wo die blutsaugenden Fledermäuse lebten, die sich in verwahrlosten Gebäuden einnisten könnten. Es muß für die Leute des Hauses Absolut schon schlimm genug sein. So weit können wir noch gar nicht von ihm entfernt sein.«
»Der Autarch ist zu bedauern«, meinte ich. »Aber ich habe dich wohl noch nie so viel über dein früheres Leben sprechen hören. Erinnerst du dich jetzt an deinen Vater und das Haus, worin die Fledermaus erschlagen worden ist?«
Sie erhob sich; obwohl sie tapfer sein wollte, sah ich, daß sie zitterte. »An jedem Morgen kann ich mich nach meinen Träumen an mehr erinnern. Aber wir müssen jetzt aufbrechen, Severian. Jolenta wird sehr geschwächt sein. Sie muß etwas zu essen und sauberes Wasser zu trinken bekommen. Hier können wir nicht bleiben.«
Ich selbst hatte einen Bärenhunger; also legte ich das braune Buch in die Gürteltasche zurück und steckte die frisch geölte Klinge von Terminus Est in die Scheide. Dorcas packte ihre Siebensachen zusammen.
Dann machten wir uns auf den Weg und überquerten den Fluß an einer Furt weit oberhalb der Sandbank. Jolenta konnte nicht ohne Hilfe gehen; wir mußten sie links und rechts stützen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, und sie sprach, obwohl sie das Bewußtsein wiedererlangt hatte, als wir sie aufhoben, nur selten. Wenn sie etwas sagte, dann nur ein, zwei Wörter. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie schmal ihre Lippen waren und daß die Unterlippe ihre ganze Festigkeit eingebüßt hatte; schlaff hing sie nach unten, wodurch das Gebiß und das bläuliche Zahnfleisch zutage traten. Es hatte den Anschein, ihr ganzer Leib, gestern noch von solch üppiger Fülle, wäre geschmolzen wie Wachs, so daß sie nun anstatt des (bisherigen) fraulichen Eindrucks, den sie gegenüber der kindlichen Dorcas erweckt hatte, wirkte wie eine verblühende Blume, der Herbst gegenüber Dorcas’ Frühling.
Als wir so entlang eines schmalen, staubigen Ackerweges wanderten, zu beiden Seiten eingeschlossen von Zuckerrohr, das schon höher als mein Kopf stand, ertappte ich mich dabei immer wieder zu überlegen, wie sehr ich sie in der kurzen Zeit, die ich sie kannte, begehrt hatte. Das Gedächtnis, so vollkommen und lebhaft, daß es mich stärker in seinen Bann schlug als jedes Opiat, führte mir die Frau vor Augen, die ich zu sehen geglaubt hatte, als Dorcas und ich eines Nachts um ein Gehölz kamen und in einer Wiese auf Dr. Talos’ lichtüberströmte Bühne stießen. Wie seltsam hatte es mich angemutet, daß sie sich, als wir am strahlendsten Morgen, den ich je erlebte, gen Norden aufbrachen, im Tageslicht als ebenso makellos erwies wie am Abend zuvor im flackernden Schein der Fackeln.
Liebe und Verlangen, sagt man, seien lediglich Kusinen, und ich habe diese Ansicht geteilt, bis ich, Jolentas schlaffen Arm um meinen Hals geschlungen, an ihrer Seite gegangen bin. Denn eigentlich stimmt’s gar nicht. Meine Liebe zu Frauen war vielmehr die dunkle Seite eines weiblichen Ideals, das ich in mir genährt hatte an Träumen von Valeria und Thecla und Agia, von Dorcas und Jolenta und Vodalus’ Buhlin mit dem herzförmigen Gesicht und der Säuselstimme, der Frau, die ich nun als Theclas Halbschwester Thea kannte. Als wir denn so durch die Mauern aus Zuckerrohr zogen, als alles Verlangen gewichen war und ich Jolenta nur mit Mitleid betrachten konnte, fand ich, der ich geglaubt hatte, an ihr nur das betörende, rosige Fleisch und die täppische Grazie ihrer Gebärden zu mögen, daß ich sie liebte.
XXIX
Die Hirten
Fast den ganzen Morgen lang wanderten wir durch das Zuckerrohrfeld, ohne jemandem zu begegnen. Jolenta wurde weder schwächer noch stärker, soweit ich das beurteilen konnte; aber ich bekam das Gefühl, der Hunger, das anstrengende Stützen und die unbarmherzig niederbrennende Sonne gingen nicht ohne Wirkung an mir vorüber, denn als ich hin und wieder zu ihr schielte, war mir, als sähe ich überhaupt nicht Jolenta, sondern eine ganz andere Frau, die mir bekannt vorkam, die ich aber nicht einzuordnen vermochte. Drehte ich den Kopf und sah ich sie direkt an, verschwand dieser (stets flüchtige) Eindruck ganz.
So zogen wir also dahin, ohne daß viel gesprochen worden wäre. Zum ersten Mal, seit ich es von Meister Palaemon erhalten hatte, wurde mir Terminus Est zu einer lästigen Bürde. Das Gehenk hatte mir die Schulter wundgerieben.
Ich schnitt uns Zuckerrohr, und wir kauten es wegen seines süßen Saftes. Jolenta war dauernd durstig, und da sie ohne Hilfe nicht gehen und nicht einmal den Zuckerrohrstengel allein halten konnte, waren wir gezwungen, häufig Rast einzulegen. Es war sonderbar, daß diese schönen, wohlgestalteten Beine mit den grazilen Knöcheln und den drallen Schenkeln sich als so nutzlos erwiesen.
In einem Tag gelangten wir an den Rand des Feldes und erreichten den Saum einer richtigen Steppe, ein Meer aus Gras. Hier gab es noch vereinzelt Bäume, aber sie standen so weit verstreut, daß jeweils nur ein paar davon in Sicht waren. An jedem dieser Bäume waren Raubtiere mit Rohleder festgebunden, die Vorderpfoten wie Arme ausgestreckt. Meist handelte es sich um die gefleckten Jaguare dieser Gegend; aber darunter sah ich ab und zu auch Ungetüme mit einer Mähne wie Menschenhaar, oder einen säbelzahnigen Smilodon. Die meisten bestanden nur mehr aus Haut und Knochen, einige lebten aber noch und gaben Laute von sich. die andere Raubkatzen angeblich in Angst und Schrecken versetzen und sie abhalten, über das Vieh herzufallen.
Diese Viehherden stellten für uns eine viel größere Gefahr als die reißenden Tiere dar. Der die Herde anführende Bulle würde alles angreifen, was in seine Nähe käme, so daß wir genötigt waren, so großen Abstand zu halten, daß ihre kurzsichtigen Augen uns nicht erfaßten, und jede gegen den Wind zu passieren. Dabei mußte Dorcas die schwere Jolenta jedesmal allein stützen, damit ich voraus und den Tieren am nächsten gehen konnte. Einmal rettete mich nur ein Satz zur Seite vor den Hörnern eines anrennenden Stiers, dem ich mit einem Schwertstreich flugs den Schädel abhackte. Wir machten ein Feuer aus dürrem Gras und brieten uns ein Stück Fleisch.
Beim nächsten Mal fiel mir die Klaue ein, und wie sie dem Angriff der Menschenaffen ein Ende gesetzt hatte. Also zog ich sie hervor, und der grimmige schwarze Bulle trottete zu mir und leckte mir die Hand. Wir setzten ihm Jolenta auf den Rücken, und Dorcas nahm dahinter Platz, um sie zu halten, während ich neben seinem Kopf ging und die Klaue so trug, daß er ihr blaues Licht sehen konnte.
Am nächsten Baum, den wir erreichten, war ein lebender Smilodon festgebunden, einer der letzten, denen wir begegneten, und ich fürchtete, der Bulle würde vor ihm scheuen. Beim Vorüberziehen spürte ich förmlich die gelben, taubeneiergroßen Augen in meinem Rücken. Meine Zunge war angeschwollen vor Durst. Ich gab Dorcas das Juwel zum Halten und ging zurück, um ihn abzuschneiden, wobei ich die ganze Zeit dachte, er griffe mich bestimmt an.