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Der Hirte kam mit einer Gurde Wasser wieder. Ich hob Jolentas Oberkörper in Sitzhaltung, während Dorcas das Gefäß an ihre Lippen führte. Das Wasser lief ihr über das zerlumpte Kleid, aber ein Teil auch in die Kehle; als die Gurde leer und der Hirte sie wieder gefüllt hatte, konnte sie schon schlucken. Ich fragte ihn, ob er wisse, wo der See Diaturna liege.

»Ich bin ungebildet und dumm«, sagte er. »Ich bin noch nie so weit geritten. Ich habe gehört, in dieser Richtung«, wobei er sie anzeigte, »nördlich und westlich. Wollt ihr dorthin?«

Ich nickte.

»Dann müßt ihr durch einen schlimmen Ort. Durch viele schlimme Orte vielleicht, gewiß aber durch die steinerne Stadt.«

»Es gibt hier in der Nähe also eine Stadt?«

»Eine Stadt ja, aber ohne Menschen. Die dummen Eklektiker, die am Rande der Stadt leben, glauben, sie bewege sich und stelle sich einem, ganz gleich welchen Pfad man auch wähle, immer wieder in den Weg.« Nach einem kurzen Lachen seufzte der Hirte. »Das stimmt nicht. Aber die steinerne Stadt ist so gekrümmt, wie ein Reittier geht, so daß man sie vor sich sieht, während man meint, sie zu umrunden. Versteht ihr? Nicht ganz, glaub’ ich.«

Mir fiel der Botanische Garten ein, und ich nickte. »Ich verstehe. Sprich weiter.«

»Wenn ihr nach Norden und Westen wollt, müßt ihr die steinerne Stadt sowieso passieren. Sie muß gar nicht so gebogen sein, wie ihr geht. Manche finden dort nichts als verfallene Mauern. Andere, wie ich höre, finden Schätze. Wieder andere bringen frische Vorräte mit heim, und wieder andere kehren nie zurück. Keine der Damen ist Jungfrau, nehm’ ich an.«

Dorcas sperrte den Mund auf. Ich nickte.

»Das ist gut. Denn gerade die kommen, meist nicht wieder. Versucht, bei Tage durchzugehen, so daß ihr am Morgen die Sonne über der rechten Schulter und später im linken Auge habt. Wenn die Nacht anbricht, bleibt nicht stehen oder biegt seitlich ab. Seht zu, daß die Sterne des Ihuaivulu vor euch stehen, sobald sie sichtbar werden.«

Ich nickte und wollte mich nach weiteren Einzelheiten erkundigen, als der Kranke die Augen aufschlug und sich aufsetzte. Seine Decke rutschte hinunter, und ich sah einen blutigen Verband auf seiner Brust. Er schreckte zurück, starrte mich an und rief etwas. Im nächsten Augenblick spürte ich die kalte Messerklinge des Hirten an meinem Hals. »Er tut dir nichts«, erklärte er dem Kranken. Er redete im gleichen Dialekt, aber weil er langsamer sprach, konnte ich ihn verstehen. »Ich glaub’ nicht, daß er weiß, wer du bist.«

»Ich sage dir, Vater, das ist der neue Liktor von Thrax. Sie haben nach einem geschickt, und die Schließer sagen, er sei unterwegs. Töte ihn! Er wird alle umbringen, die nicht schon tot sind.«

Ich war erstaunt, ihn von Thrax reden zu hören, das noch ein ganzes Stück entfernt war, und wollte ihn darüber befragen. Ich hätte wohl mit ihm und seinem Vater sprechen und eine Art Waffenstillstand schließen können, aber Dorcas schlug dem Greis mit der Gurde eine übers Ohr – ein nutzloser Angriff, von sanfter Frauenhand ausgeführt, der lediglich das Gefäß zerschellen ließ und ein wenig weh tat. Er stach mit seinem krummen, zweischneidigen Dolch auf sie ein, aber ich packte seinen Arm und brach ihn ihm; sodann brach ich unter meinem Stiefelabsatz auch das Messer entzwei. Sein Sohn Manahen versuchte aufzustehen; aber auch wenn die Klaue ihm das Leben wiedergegeben hatte, so hatte sie ihm zumindest keine Kraft verliehen, denn Dorcas konnte ihn wieder auf sein Lager zurückstoßen.

»Wir werden verhungern«, klagte der Hirte. Sein braunes Gesicht war verzerrt, so beherrschen mußte er sich, nicht loszuschreien.

»Du hast für deinen Sohn gesorgt«, erklärte ich ihm. »Bald wird er wieder gesund sein und für dich sorgen können. Was hat er sich denn getan?«

Keiner von beiden wollte es sagen.

Ich richtete den Bruch und schiente den Arm, und Dorcas und ich aßen und schliefen in dieser Nacht draußen, nachdem wir Vater und Sohn angedroht hatten, sie zu töten, sollten wir auch nur hören, daß die Tür sich öffne, oder sollte Jolenta ein Haar gekrümmt werden. Am Morgen, als alle noch schliefen, berührte ich den gebrochenen Arm des Hirten mit der Klaue. Nicht weit vom Haus entfernt war ein Renner angepflockt. Ich schwang mich auf seinen Rücken und konnte so einen zweiten für Dorcas und Jolenta erwischen. Als ich ihn zurückführte, fiel mir auf, daß die Sodenmauern über Nacht grün geworden waren.

XXX

Wieder der Dachs

Entgegen der Auskunft des Hirten hoffte ich auf einen Ort wie Saltus, wo wir frisches Wasser und für ein paar Aes zu essen und ein Lager bekämen. Was wir statt dessen fanden, waren lediglich die Reste einer Siedlung. Dichtes Gras wucherte zwischen den dauerhaften Steinen, die einst ihr Pflaster waren, so daß sie sich aus der Ferne kaum von der umliegenden Pampa unterschied. Umgestürzte Säulen bedeckten den Boden wie Baumstämme in einem Wald, in dem der Sturm gewütet hatte; einige wenige standen noch, in der Sonne brüchig und so weiß geworden, daß es einem weh tat. Eidechsen mit glänzenden, schwarzen Augen und gezähntem Rücken ließen sich regungslos bescheinen. Die Bauten waren zu bloßen Hügeln geschrumpft, auf denen das Gras in der vom Wind herangetragenen Erde üppiger gedieh.

Da ich keinen Grund sah, unsere Richtung zu ändern, zogen wir, unsere Renner antreibend, weiter nordwestwärts. Zum ersten Mal gewahrte ich vor uns die Berge. Von einem Ruinengewölbe umrahmt, offenbarten sie sich lediglich als zarte blaue Linie am Horizont; dennoch waren sie gegenwärtig, wie die irren Klienten im dritten Geschoß unserer Oubliette gegenwärtig waren, obwohl sie nie eine einzige Stufe heraufgeführt oder auch nur aus den Zellen gelassen wurden. Irgendwo in diesem Gebirge lag der See Diaturna. Und Thrax. Die Pelerinen wanderten, soweit ich das feststellen konnte, irgendwo zwischen seinen Gipfeln und Schluchten und pflegten die Verwundeten aus dem endlosen Krieg gegen die Ascier. Auch dies lag im Gebirge. Hunderttausende kamen dort um eines Passes willen um.

Nun waren wir aber in eine Stadt gelangt, in der keine Stimme bis auf die des Raben ertönte. Zwar hatten wir in Lederbeuteln Wasser aus dem Haus des Hirten mitgenommen, aber es war fast aufgebraucht. Jolenta war schwächer, und Dorcas und ich waren uns einig, daß sie sterben müßte, hätten wir bis zur Dämmerung kein frisches gefunden. Als die Urth sich allmählich über die Sonne wölbte, stießen wir auf einen Opfertisch, in dessen Becken sich Regen gesammelt hatte. Das abgestandene Wasser stank, aber in unserer Verzweiflung ließen wir Jolenta ein paar Schlucke trinken, die sie sofort wieder erbrach. Die sich drehende Urth enthüllte den inzwischen abnehmenden Mond, so daß er uns mit seinem fahlen Schein leuchtete, sobald das Sonnenlicht versiegte.

Auf ein schlichtes Lagerfeuer zu stoßen, das wäre uns wie ein Wunder vorgekommen. Was wir tatsächlich sahen war wunderlicher, aber nicht so verblüffend. Dorcas deutete nach links. Ich schaute und bemerkte im nächsten Augenblick, was ich für einen Meteor hielt. »Eine Sternschnuppe«, sagte ich. »Hast du schon einmal eine gesehen? Manchmal fallen sie scharenweise.«

»Nein! Das ist ein Gebäude – siehst du’s nicht? Die dunklen Umrisse vor dem Himmel. Es muß ein Flachdach haben, auf dem jemand mit Feuerzeug hantiert.«

Ich wollte schon erwidern, daß sie eine zu große Phantasie habe, als eine schwache rote Glut, offenbar so winzig wie ein Stecknadelkopf, an der Stelle sichtbar wurde, wo die Funken gefallen waren. Im nächsten Augenblick entdeckte ich ein züngelndes Flämmchen.

Es war nicht weit weg, aber die Dunkelheit und das Steinfeld, über das wir ritten, ließen es uns so erscheinen, und als wir das Bauwerk erreichten, brannte das Feuer so hell, daß wir davor hockende Gestalten erkannten. »Wir brauchen Hilfe«, rief ich. »Diese Frau liegt im Sterben.«