„Lies es nur ruhig vor!" rief die kleine Hexe. „Wenn es nicht lauter Lügen sind, habe ich nichts zu befürchten!"
„Das wird sich heraus stellen!" sagte die Muhme Rumpumpel. Dann las sie dem Hexenrat vor, was die kleine Hexe im Lauf dieses Jahres getan hatte: Wie sie den Klaubholzweibem geholfen und wie sie den bösen Förster kuriert hatte; die Geschichten vom Blumenmädchen, vom Bierkutscher und vom Maronimann brachte sie auch vor; vom Ochsen Korbinian, dem die kleine Hexe das Leben gerettet hatte, vom Schneemann und von den Eierdieben erzählte sie gleichfalls.
„Vergiß nicht den Schindelmacher!" sagte die kleine Hexe. „Den habe ich auch zur Vernunft gebracht!"
Sie hatte erwartet, daß sich die Muhme Rumpumpel nach besten Kräften bemühen würde, sie schlecht zu machen. Statt dessen las sie aus ihrem Merkheft nur Gutes vor.
„Stimmt das auch?" fragte die Oberhexe nach jeder Geschichte.
„Jawohl!" rief die kleine Hexe, „es stimmt!" — und war stolz darauf.
In ihrer Freude entging es ihr ganz und gar, daß die Oberhexe von Mal zu Mal strenger fragte. Sie merkte auch nicht, daß die übrigen Hexen bedenklich und immer bedenklicher mit den Köpfen wackelten. Wie erschrak sie daher, als plötzlich die Oberhexe entrüstet ausrief:
„Und so etwas hätte ich morgen nacht um ein Haar auf den Blocksberg gelassen! Pfui Rattendreck, welch eine schlechte Hexe!"
„Wieso denn?" fragte die kleine Hexe betroffen. „Ich habe doch immer nur Gutes gehext!"
„Das ist es ja!" fauchte die Oberhexe. „Nur Hexen, die immer und allezeit Böses hexen, sind gute Hexen! Du aber bist eine schlechte Hexe, weil du in einem fort Gutes gehext hast!"
„Und außerdem", klatschte die Muhme Rumpumpel — „außerdem hat sie auch einmal am Freitag gehext! Sie tat es zwar hinter verschlossenen Fensterläden, aber ich habe zum Schornstein hineingeschaut."
„Wie?!" schrie die Oberhexe, „das auch noch!"
Sie packte die kleine Hexe mit ihren Spinnenfingern und zauste sie an den Haaren. Da stürzten auch alle übrigen Hexen mit wildem Geheul auf das
arme Ding und verbleuten es mit den Besenstielen. Sie hätten die kleine Hexe wohl krumm und lahm geschlagen, wenn nicht die Oberhexe nach einer Weile gerufen hätte:
„Genug jetzt! Ich weiß eine bessere Strafe für sie!" Hämisch befahl sie der kleinen Hexe: „Du wirst auf dem Blocksberg das Holz für das Hexenfeuer
Zusammentragen. Du ganz allein! Bis morgen um Mitternacht mußt du den Scheiterhaufen errichtet haben. Wir werden dich dann in der Nähe an einen Baum binden, wo du die ganze Nacht stehen und zuschauen sollst, wie wir anderen tanzen!"
„Und wenn wir die ersten paar Runden getanzt haben", hetzte die Muhme Rumpumpel, „dann gehen wir hin zu der kleinen Kröte und rupfen ihr einzeln die Haare vom Kopf! Das wird lustig! Das gibt einen Spaß für uns! An diese Walpurgisnacht wird sie noch lange denken!"
Wer zuletzt lacht...
„Ich Unglücksrabe!" stöhnte der brave Abraxas, als ihm die kleine Hexe erzählt hatte, wie es ihr auf dem Kreuzweg hinter dem roten Stein in der Heide ergangen war. „Ich bin schuld daran! Ich — und sonst keiner! Nur ich habe dir geraten, immerfort Gutes zu hexen! Ach, wenn ich dir wenigstens helfen könnte!"
„Das muß ich wohl selber tun", sagte die kleine Hexe. „Ich weiß noch nicht, wie... Aber daß ich mich nicht an den Baum binden lasse, das weiß ich!"
Sie lief in die Stube und holte das Hexenbuch aus dem Tischkasten. Eifrig begann sie darin zu blättern.
„Nimmst du mich mit?" bat Abraxas.
„Wohin?"
„Auf den Blocksberg! Ich möchte dich heute nacht nicht allein lassen."
„Abgemacht", sagte die kleine Hexe. „Ich nehme dich mit. Aber nur unter einer Bedingung: Du mußt jetzt den Schnabel halten und darfst mich nicht stören!"
Abraxas verstummte. Die kleine Hexe vertiefte sich in das Hexenbuch. Von Zeit zu Zeit brummte sie etwas. Der Rabe verstand es nicht, aber er hütete sich, sie zu fragen.
Das ging bis zum Abend so fort. Dann erhob sich die kleine Hexe und sagte:
„Jetzt habe ich's! — Reiten wir nun auf den Blocksberg!"
Noch war auf dem Blocksberg nichts von den anderen Hexen zu sehen. Die mußten die Mittemachtsstunde abwarten, ehe sie auf die Besen steigen und herreiten durften. So schrieb es der Hexenbrauch für die Walpurgisnacht vor.
Die kleine Hexe setzte sich auf den Gipfel des Berges und streckte die Beine aus.
„Willst du nicht anfangen?" fragte Abraxas.
„Anfängen?" meinte die kleine Hexe. „Womit?" „Mit dem Holzsammeln! — Sollst du denn nicht einen Scheiterhaufen Zusammentragen?"
„Hat Zeit!" rief die kleine Hexe und grinste.
Abraxas entgegnete: „Aber es ist doch schon eine Stunde auf Mitternacht! Eben hat es im Tal unten elf geschlagen!"
„Es wird auch halb zwölf schlagen", sagte die kleine Hexe. „Verlaß dich darauf, daß der Holzhaufen rechtzeitig fertig wird."
„Hoffen wir's!" krächzte Abraxas. Die kleine Hexe mit ihrer Ruhe wurde ihm langsam unheimlich. Wenn das nur gut ging!
Im Tal unten schlug es halb zwölf.
„Beeile dich!" drängte Abraxas. „Nur eine halbe Stunde noch!"
„Mir genügt eine Viertelstunde", antwortete die kleine Hexe.
Als es drei viertel schlug, war sie mit einem Satz auf den Beinen. „Jetzt geht es ans Holzsammeln!" rief sie und sprach einen Hexenspruch.
Da kam es von allen Seiten herbeigeflattert. Es krachte und knallte und klapperte. Holterdiepolter! fiel es herunter und türmte sich übereinander auf einen Haufen.
„Oho!" rief Abraxas. „Was sehe ich? Sind das nicht Besen?"
„Jawohl, es sind Besen — die Hexenbesen der großen Hexen! Ich habe sie allesamt auf den Blocksberg gehext. Und dieser, der lange da, ist der Besen der Oberhexe."
„Was — bedeutet das?" fragte der Rabe Abraxas erschrocken.
„Ich werde sie anzünden", sagte die kleine Hexe. „Was meinst du wohl, wie sie brennen werden! Jetzt brauche ich aber auch noch Papier dazu."
Sie sprach einen zweiten Spruch.
Nun erhob sich ein Rauschen und Brausen am Himmel. Wie Scharen von riesigen Fledermäusen schwebte es flügelschlagend über die Wälder heran, auf den Gipfel zu.
„Immer herbei!" rief die kleine Hexe, „und husch! auf den Besenhaufen!"
Es waren die Hexenbücher der großen Hexen. Die kleine Hexe hatte sie herbefohlen.
„Was tust du nur!" kreischte Abraxas. „Die großen Hexen werden dich umbringen!"
„Kaum!" rief die kleine Hexe und sagte den dritten Spruch.
Dieser dritte Spruch war der beste. Sie hexte damit den großen Hexen das Hexen ab. Nun konnte nicht eine von ihnen mehr hexen! Und da sie auch keine Hexenbücher mehr hatten, so waren sie außerstande, es jemals wieder zu lernen.
Im Tal schlug es Mitternacht.
„So", rief die kleine Hexe zufrieden, „jetzt wollen wir anfangen! Heia, Walpurgisnacht!"
Mit dem Feuerzeug, das sie beim Billigen Jakob gekauft hatte, steckte sie Besen und Hexenbücher in Brand.
Es wurde ein Hexenfeuer, wie es nicht schöner sein konnte. Prasselnd und knatternd schlugen die Flammen zum Himmel
Bis in die Morgenstunden umtanzte die kleine Hexe, allein mit dem Raben Abraxas, den lodernden Scheiterhaufen. Nun war sie die einzige Hexe auf Erden, die hexen konnte. Gestern noch hatten die großen Hexen sie ausgelacht, jetzt war sie an der Reihe.
„Walpurgisnacht!" jauchzte die kleine Hexe über den Blocksberg hin.