Erich Kästner
Die Konferenz der Tiere
telegramm an alle weit: –..– konferenz in london beendet –..– Verhandlungen ergebnislos –..– bildung von vier internationalen kommissionen –..– nächste konferenz beschlossen –..– wegen tagungsort noch meinungsverschiedenheiten
Eines schönen Tages wurde es den Tieren zu dumm. Der Löwe Alois, der sich mit Oskar, dem Elefanten, und dem Giraffenmännchen Leopold wie immer freitags zum Abendschoppen am Tsadsee in Nordafrika traf, sagte, seine Künstlermähne schüttelnd: »O diese Menschen! Wenn ich nicht so blond wäre, könnte ich mich auf der Stelle schwarz ärgern!«
Oskar, der Elefant, drehte sich unter dem eignen hoch erhobenen Rüssel, woraus er, wie unter einer lauen Badezimmerdusche, den staubigen Rücken besprengte, räkelte sich faul und brummte etwas im tiefsten Bass vor sich hin, was die beiden anderen nicht verstanden. Die Giraffe Leopold stand mit gegrätschten Beinen am Wasser und trank in kleinen hastigen Schlucken. Dann meinte sie, ach nein, er: »Schreckliche Leute! Und sie könnten's so hübsch haben! Sie tauchen wie die Fische, sie laufen wie wir, sie segeln wie die Enten, sie klettern wie die Gämsen und fliegen wie die Adler, und was bringen sie mit ihrer Tüchtigkeit zustande?«
«Kriege!«, knurrte der Löwe Alois. «Kriege bringen sie zustande. Und Revolutionen. Und Streiks. Und Hungersnöte. Und neue Krankheiten. Wenn ich nicht so blond wäre, könnte ich mich auf der Stelle...«
«Schwarz ärgern«, vollendete die Giraffe den Satz.
Denn den kannten die Tiere der Wüste längst auswendig.
»Mir tun bloß die Kinder Leid, die sie haben«, meinte der Elefant Oskar und ließ die Ohren hängen. »So nette Kinder! Und immer müssen sie die Kriege und die Revolutionen und Streiks mitmachen, und dann sagen die Großen noch: Sie hätten alles nur getan, damit es den Kindern später einmal besser ginge. So eine Frechheit, was?«
»Ein Vetter meiner Frau«, erzählte Alois, »war während des letzten Weltkriegs an einem großen Zirkus in Deutschland engagiert. Als Balanceakt und Reifenspringer. Hasdrubal, der Wüstenschreck, ist sein Künstlername. Bei einem schweren Luftangriff brannte das Zelt ab, und die Tiere rissen sich los...«
»Die armen Kinder«, brummte der große Elefant.
»... und die ganze Stadt stand in Flammen, und die Tiere und die Menschen schrien«, fuhr der Löwe fort, »und Hasdrubal, dem Vetter meiner Frau, sengte der glühende Wind die Mähne ab, und er trägt seitdem ein Toupet.« Wütend schlug Alois den Sand der Sahara mit seinem Schweif. »Diese Dummköpfe!«, brüllte er. »Immer wieder müssen sie Kriege machen, und kaum haben sie alles entzwei gemacht, raufen sie sich die Haare! Wenn ich nicht so blond wäre...«
»Schon gut«, unterbrach ihn die Giraffe. »Aber Schimpfen hilft nichts. Es müsste etwas geschehen!«
»Jawohl!«, trompetete Oskar, der Elefant. »Vor allem wegen der Kinder, die sie haben – aber was?«
Da ihnen nichts einfiel, trotteten sie betrübt heim. Als Oskar nach Hause kam, wollten die Elefantenkinder nicht ins Bett, und das Kleinste rief: »Lies uns, bitte, noch was vor!« Da griff der Vater zur »Neuen Sahara-Illustrierten« und las mit lauter Stimme: »Vier Jahre nach dem Krieg gibt es in Europa immer noch viele Tausende von Kindern, die nicht wissen, wo ihre Eltern sind, und unzählige Eltern, die ...«
»Hör auf, Oskar!«, sagte da seine Frau. »Das ist nichts für kleine Elefanten!«
Als Leopold heimkam, wollten die kleinen Giraffen noch nicht schlafen, und das Jüngste rief: »Bitte, Papa, lies uns was vor!« Da griff der Vater zum »Täglichen Sahara-Boten« und las: »Vier Jahre nach dem Kriege hat sich die Zahl der Flüchtlinge in Westdeutschland auf vierzehn Millionen, vorwiegend Greise und Kinder, erhöht, und ihre Zahl nimmt von Monat zu Monat zu. Niemand will sie...«
»Hör auf, Leopold!«, sagte da seine Frau. »Das ist nichts für kleine Giraffen!«
Als Alois ins Schlafzimmer trat, riefen alle seine Kinder: »Bitte, bitte, lies uns noch was vor!« Da griff der Vater zum »Allgemeinen Sahara-Anzeiger«, sagte: »Seid schon still!«, und las: »Vier Jahre nach dem Krieg, der die halbe Welt zerstört hat und dessen Folgen auch heute noch nicht abzusehen sind, kursieren bereits Gerüchte von einem neuen Kriege, der sich heimlich vorbereite und nächstens...«
»Höre sofort auf, Alois!«, rief da seine Frau. »Still! Das ist nichts für kleine Löwen!«
Als die Elefäntchen und alle anderen Tierkinder schliefen, musste Oskar, der große Elefant, in der Küche, wo seine Frau abwusch, das Geschirr abtrocknen. »Es ist zum Ausderhautfahren«, brummte er. »Das bisschen Geschirr!«, maulte sie. »Du wirst täglich fauler!« »Ich meine doch nicht deine Teller und Tassen«, sagte er, »ich denk an die Menschen! An die Flüchtlinge, an die Atombombe, an die Streiks, an den Hunger in China, an den Überfluss in Südamerika, an den Krieg in Vietnam, an die verlorenen Kinder und Eltern, an die Unruhen in Palästina, an die Gefängnisse in Spanien, an den schwarzen Markt, an die Emigranten...« Er sank erschöpft auf einen Küchenstuhl. Seine Frau spülte gerade die Milchtöpfe der Kinder mit ihrem Rüssel. »Da!«, rief er plötzlich. Sie ließ vor Schreck eins der Töpfchen fallen. »Da!«, brüllte er dumpf und schlug mit der Faust auf den Küchentisch, wo das »Sahara-Abendblatt« lag. »Da! Lies! Wieder eine Konferenz zum Teufel! O diese Menschen! Sie können nur zerstören! Sooft sie aufbauen wollen, wird's ein Turm zu Babel! Mir tun bloß die Kinder Leid!«
telegramm an alle weit: –..– konferenz der aussenminister in paris abgebrochen –..– keine resultate –..– Verstimmung in den Hauptstädten –..– Wiederaufnahme der konferenz donnerstag in vier wachen –..– überall geheime kabinettssitzungen anberaumt –..––..–––..––––
Oskar zerknüllte die Zeitung und warf sie unter den Tisch. Dabei fiel ihm der Schulranzen seines Ältesten ins Auge. Er packte ihn, nahm Malkasten und Zeichenpapier heraus und sagte: »Schau her, Frau! Jetzt zeig ich dir, wie's auf der Erde aussieht!« Dann zeichnete er zwei Kreise. Das waren die Erdhälften...
»Das ist die eine Erdhälfte«, sagte der Elefant zu seiner Frau. »Und überall herrschen unter den Menschen Not und Unvernunft. Das sieht jedes Tier...«
»Nur ein Tier«, sagte der Elefant, »will das Elend und Durcheinander nicht sehen – das ist der Vogel Strauß. Er steckt den Kopf in den Sand.«
»Das ist die andere Erdhälfte«, sagte der Elefant zu seiner Frau. »Und überall herrschen seit Jahrhunderten Krieg, Not und Unvernunft. Das sieht jeder Mensch...«
»Nur manche Menschen«, meinte der Elefant, »wollen daraus nichts lernen. Sie regieren und reden und machen Konferenzen...«
»Ich weiß«, sagte seine Frau, »und stecken den Kopf in den Sand.«
Nach einer Nacht voller merkwürdiger Träume rannte der Elefant, noch verschlafen und in Pantoffeln, in aller Herrgottsfrühe zum Telefon und meldete sechs Ferngespräche an: eines mit seinem kleinen Neffen, dem Tapir Theodor, in Südamerika; eins mit dem Känguru Gustav in Australien; eines mit dem alten Eisbären Paul am Nordpol; eins mit der Eule Ulrich in Mitteleuropa; das fünfte mit der Maus Max in Asien und das sechste mit Reinhold, dem Stier, in Nordamerika. Da hatten die Störche und Flamingos, die im ägyptischen Hauptpostamt als Telefonfräuleins angestellt waren, mächtig zu tun. Erst gab es ein paar Fehlverbindungen, aber schließlich klappte es.
»Hört bitte genau zu!«, rief Oskar, der Elefant. »Mit den Menschen geht das so nicht weiter! Versteht ihr mich?« »Ja, Oskar!«, antworteten die sechs, so laut sie konnten. »Ich habe eine Idee gehabt!«, brüllte der Elefant. »Es ist ihrer Kinder wegen, bloß deshalb! Eine ausgezeichnete Idee! Das heißt, mir und meiner Frau gefällt sie sehr gut ... Sie ist bestimmt nicht übel ... Nein, schlecht ist sie nicht ... Es gibt dümmere Einfalle ... Warum sagt ihr denn gar nichts?« »Wir warten auf deine Idee!«, rief der Stier Reinhold in Nordamerika. »Ach so!«, sagte der Elefant, und alle sieben mussten lachen. »Nun, verrate sie uns schon!«, kicherte die Maus Max in Asien. »Also, hört zu!«, rief der Elefant. »Die Menschen machen in einem fort Konferenzen, ohne etwas zu erreichen, und so ist meine Idee, dass wir auch – eine Konferenz abhalten!«